Schule – und was dann?

Die Schule ist geschafft, der Abschluss in der Tasche, doch wie geht es weiter? Die Frage nach dem weiteren Lebensweg stellen sich Schüler heutzutage immer öfter und immer früher
FOTOS: LISA JOHANNA THIELE | ILLUSTRATIONEN: KARIN LUBENAU | 2017/2

 

30 Prozent der Schülerinnen und Schüler wissen noch nicht, was sie nach ihrem Schulabschluss machen wollen. Diese Zahl hat das Forschungsinstitut trendence in seinem Schülerbarometer für das Jahr 2017 veröffentlicht.  Das sind zehn Prozent mehr als noch im vergangenen Jahr. Rund 20.000 abschlussnahe Schülerinnen und Schüler aus ganz Deutschland der Klassen 8 bis 13 haben an der anonymen Befragung teilgenommen. Im Fokus standen sowohl die beruflichen Ziele, Wünsche und Hoffnungen als auch die Erwartungen und Anforderungen an Ausbildungsbetriebe und Hochschulen.

Diese Unsicherheit liegt unter anderem an der Undurchschaubarkeit der Arbeitswelt, die zugleich aber auch an Vielfalt gewinnt. Sie wird herausfordernder, chancenreicher, aber es wird auch mühsamer, sich darin zu orientieren. Die erste Schülerkonferenz „Brave New World“ in Berlin soll den Schülern einen Überblick über das Angebot und die Start-up-Szene ermöglichen.

Vor dem Siemens-Gebäude am Rohrdamm steht auf dem Asphalt in neongrüner Schrift #BraveNewWorld. Theo besucht die 12. Klasse auf dem Phorms Campus Berlin Mitte und betritt gemeinsam mit 80 Mitschülern den Eingangsbereich und die imposante Mosaikhalle. Von dort gelangen die künftigen Abiturienten in einen großen Saal und warten gespannt auf den ersten Vortrag.

Organisiert wird die „Brave New World“ von den Machern der „Startupnight“, eine Initiative, die vor fünf Jahren von der deutschen Telekom ins Leben gerufen wurde. Sie besteht aus einem Konglomerat  mehrerer großer Unternehmen wie Deutsche Bank, Siemens, VW oder e.on, die die Start-up-Szene in Berlin fördern. Um Schülern die vielfältigen neuen Berufe näher zu bringen, werden unterschiedliche Vorträge und Workshops auf der „Brave New World“ angeboten.

Als Auftakt kommt der Start-up-Gründer Nikita Fahrenholz auf die Bühne. Der 32-Jährige ist als Gründer der Berliner Unternehmen „Lieferheld“ und „Book a Tiger“ bekannt und zählt zu den erfolgreichsten Start-up-Unternehmern Deutschlands. „Was es bedeutet, Gründer zu sein“ ist Thema seines Kurzvortrages. Doch anstelle eines Lobgesangs an die Start-up-Welt und das Gründertum erscheinen hinter dem Unternehmer in großen schwarzen Lettern die Worte „Don’t do it“. Ein wenig abschrecken möchte Fahrenholz dadurch schon. „Gründen ist nicht immer positiv, es gibt eine große Schattenseite und man hofft immer, dass man die Kurve kriegt“, erzählt er und zeigt Fotos von seinem früheren Konferenzsaal: der Toilette. Die bescheidene Größe des damaligen ersten Büros habe eine ruhigere Ecke leider nicht erlaubt. Schmunzelnd hören ihm die baldigen Abiturienten zu und nach einem sehr lebhaften Vortrag wird klar: Ein Start-up zu gründen ist nicht einfach und macht nicht immer nur Spaß.

„Ich fand es gut, wie unverblümt er das erzählt hat. Ich würde später vielleicht selbst gerne ein Unternehmen gründen“, sagt Theo. Als nächstes möchte er einen Vortrag zum Thema Venture Capital – kurz VC – besuchen. Ein VC bezeichnet ein Investment, das unter Verlustrisiko zur Finanzierung eines jungen Unternehmens eingesetzt wird. „Ich finde das Thema ‚Investment‘ und alles rund um Finanzen spannend. Ich denke auch, dass die herkömmlichen Sparmöglichkeiten, wie ein Spar- oder Tagesgeldkonto, in der Zukunft nicht mehr so Bestand haben“, sagt Theo. Dass es später nicht mehr dieselben Berufe geben wird und teilweise schon nicht mehr gibt, ist dem 17-Jährigen und den Machern der Konferenz bewusst.

„Corporates und junge Unternehmer brauchen auch junge Talente, deshalb wollen wir ihnen an dieser Stelle zeigen, was es jetzt alles gibt“, sagt Stefanie Schlappa, Mitgründerin der „Brave New World“-Konferenz. Die Konferenz wurde 2017 zum ersten Mal initiiert und richtet sich hauptsächlich an Schülerinnen und Schüler ab der 10. Klasse.

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Manche junge Besucher wissen aber schon genau, was sie machen möchten. So auch Josie, die dieses Jahr das Abitur am Phorms Campus in Berlin Mitte absolvieren wird. Für die 18-Jährige steht fest, Englischlehrerin am Gymnasium zu werden. Die Zahl der Studenten in Deutschland beträgt derzeit 2,8 Millionen und ist so hoch wie nie zuvor. Viele studieren, weil ein Hochschulabschluss zahlreiche berufliche Möglichkeiten eröffnen kann und wichtige berufliche Schlüsselqualifikationen, wie eine eigenständige Bearbeitung von Problemstellungen und kritisches Denken, erlangt werden können. Acht gute Gründe für ein Studium gibt es auf Seite 16 nachzulesen. Wer aber schon weiß, welche Fachrichtung ihn interessiert, kann sich auf Seite 17 über den Bewerbungsprozess informieren. Hierzu gibt die Ludwig-Maximilians-Universität in München wichtige Tipps für angehende Bewerber.

Obwohl Josie schon genau weiß, was sie machen möchte, hat sie bei der „Brave New World“-Konferenz etwas für die Zukunft gelernt: „Vor allem in Richtung Kommunikation konnte ich mir ein paar Sachen abschauen.“

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Auch Melina aus der 11. Klasse gefallen die Workshops, obwohl sie ein Studium für die klassischeren Berufsformen anstrebt: „Entweder Ärztin über die Bundeswehr oder Verkehrswesen mit Schwerpunkt auf Luft- und Raumfahrtechnik, gerne an der TU Berlin.“ Am meisten habe Melina bisher der Vortrag des Pitch Doktors gefallen. Der Pitch-Begriff stammt eigentlich aus der Werbebranche. Agenturen treten im Rahmen eines sogenannten Pitchs vor einem potenziellen Kunden gegeneinander an, um den Kunden zu überzeugen und Aufträge zu ergattern. In der Start-up-Szene haben Gründer so die Möglichkeit, vor Investoren innerhalb kürzester Zeit ihre Geschäftsideen zu präsentieren und sie davon zu überzeugen.

„Ich debattiere und diskutiere gerne und es war krass zu sehen, welche Wirkung Wörter haben können und was man tun kann, um tatsächlich gehört zu werden oder Einfluss zu haben“, sagt Melina.

„Man versucht, mit einer neuen Perspektive an Dinge heranzugehen“

Während Theo im Venture-Capital-Vortrag Platz genommen hat, besucht sein Mitschüler Elliot den kreativen Workshop „Design Thinking“. 

Jeder soll innerhalb von drei Minuten seine perfekte Geldbörse designen. Auf einem großen Blatt Papier zeichnen und radieren die Schüler los. Manche entwerfen ihr üppig gefülltes Traum-Porte­monnaie, manch anderer sieht an seiner eigenen Geldbörse Probleme, die er jetzt in der Zeichnung beheben kann. Später setzen sich die Schüler in Zweiergruppen zusammen, interviewen den jeweils anderen und versuchen, sein perfektes Portemonnaie zu gestalten. Es geht im Workshop hauptsächlich darum, ein Produkt für einen Kunden zu entwickeln, dabei seiner Kreativität freien Lauf zu lassen und auf die Wünsche des anderen einzugehen.

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„Man sieht die Dinge aus einer neuen Perspektive“, sagt Elliot mit Blick auf das Traumprodukt seiner Nachbarin. Der 17-Jährige besucht derzeit die 12. Klasse am Campus in Berlin Mitte. Er möchte später Fotografie studieren. Doch nach dem Abitur möchte er zunächst einmal eine Auszeit nehmen: „Ich will Geld verdienen und sparen, um dann zu reisen.“ In der Tat kann eine Auszeit nach dem Abitur, auch als Gap Year bekannt, den Abiturienten nicht nur einen kühlen Kopf verschaffen, sondern auch bei der Karriereplanung helfen. Laut dem Schülerbarometer 2017 planen 42 Prozent der befragten Schülerinnen und Schüler wie Elliott nach der Schule eine Auszeit einzulegen. Viele verbringen dabei ihre Auszeit mit sinnvollen Tätigkeiten wie Freiwilligenarbeit oder Praktika. Weitere Tipps und Möglichkeiten gibt es auf Seite 22.

Der Mut zur Lücke kann auch späteren Arbeitgebern beweisen, dass man sich ausreichend Zeit genommen hat, um sich über die berufliche Zukunft im Klaren zu sein. Außerdem kann man neue Fähigkeiten erlernen und Erfahrungen sammeln, die dazu führen können, das zu machen, was einem am meisten Spaß bereitet.

Doch nicht jeder strebt wie Josie, Melina oder Elliot nach einem Studium und findet darin sein Glück. Andere präferieren eine Ausbildung oder haben vielleicht schon einen außergewöhnlichen Beruf vor Augen. So auch René Hoffmann, der einzige in Deutschland zertifizierte LEGO-Modellbauer und Janine Wildhage, Geigenbauerin in Berlin. Beide erzählen auf Seite 19 von ihren originellen Berufen und wie sie dazu gekommen sind. Janine Wildhage musste für die Profession des Geigenbauens eine Ausbildung absolvieren. Immer mehr junge Leute entscheiden sich für diesen Weg. Das weiß auch Meike Al-Habash, Bereichsleiterin der Ausbildungsberatung der IHK-Berlin. In einem Interview auf Seite 20 erzählt sie, was man alles über Ausbildungen wissen muss und verrät uns auch einen neuen Ausbildungsberuf, den es ab dem Jahr 2018 geben soll.

Egal, ob sich die Schüler nach ihrem Abschluss für ein Studium, eine Ausbildung oder ein Gap-Year entscheiden: Sie sollten keine Angst vor Veränderungen haben. Den eigenen Weg zu finden, braucht Zeit: Irrwege und Umwege gehören zur Entwicklung und zum individuellen Wachstum dazu. Wie man der Angst vor einem Neubeginn, wenn sie konkret hochkriecht, begegnet, kann man auf Seite 15 nachlesen.

Am Ende des Tages konnten Elliot, Josie, Melina und Theo viele neue Eindrücke über die Zukunftsberufe und die Start-up-Szene sammeln. Viele Schulen bieten immer mehr Berufsvorbereitende Veranstaltungen an. Die Anfrage wächst, denn rund 44 Prozent der Schüler verlangen noch mehr Hilfe bei der Berufsorientierung von ihren Schulen, obwohl zwei Drittel der Schulen bereits viele Veranstaltungen zum Thema anbieten. „Wir wollen ja als Schule auf die neue Welt und die neuen Berufe vorbereiten. Das Problem ist, dass ich ihnen diese neuen Berufe und alles, was dazu gehört, nur begrenzt in einer Schule aufzeigen kann“, sagt Marc Vehlow, Schulleiter des Phorms Campus Berlin Mitte. Umso wichtiger sei die Kooperation zwischen Schulen und Veranstaltern wie der „Brave New World“.

Festzuhalten ist dennoch, dass die Schülerinnen und Schüler nicht allzu sehr verunsichert sind und 70,8 Prozent der trendence-Befragten schauen ihrer beruflichen Zukunft positiv entgegen. Vielleicht konnte sich der eine oder andere durch der „Brave New World“-Konferenz inspirieren lassen und weiß nun, was er nach der Schule machen möchte. Um auch die nächsten Generationen auf die Zukunft und deren neue Berufe vorzubereiten, soll das Schülerformat der „Startupnight“ auch nächstes Jahr stattfinden.


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