»Von der Natur lernt jeder das, was er braucht«

Im Gespräch mit Boris Braun, Diplombiologe und Gymnasiallehrer für Biologie, Chemie und Technik am Phorms Campus Hamburg
Foto: Stefan Wieland | 2018/1

 

Du integrierst Wildnispädagogik in Unterricht und Alltag. Was genau umfasst dieser Bereich?

Boris Braun Im Englischen nennt sich Wildnispädagogik »Wilderness Awareness«, was so viel bedeutet wie »Achtsamkeit in der Natur«. Dieser englische Begriff fasst es ganz gut zusammen. Es geht darum, sich bewusst mit der Natur auseinanderzusetzen, welche Pflanzen, Tiere, klimatischen Bedingungen um einen herum existieren und was wir uns von ihnen abschauen können.

Was bringt Kindern der Kontakt zur Natur?

Nach meiner Erfahrung ist der Kontakt zur Natur ein Grundbedürfnis wie atmen, trinken und essen – wenn man davon dauerhaft abgespalten ist, fühlt es sich wie eine Mangelernährung an. Genauso geht es den Kindern und Jugendlichen, die nach der Naturerfahrung dürsten. Wenn etwa 25 Kinder ihre eigenen Löffel aus Holz geschnitzt haben, spüren sie, dass sie selber etwas bewirken und ihre Umwelt mitgestalten können. Genau diese Erfahrungen mit Naturmaterialien oder der Natur im Allgemeinen bestärken die Kinder in ihrem Denken und Handeln. In geschlossenen Schulräumen haben sie wenig Raum zur Selbstentfaltung und Selbsterfahrung. Außerhalb des Klassenraums können sie die Unterrichtsinhalte hingegen sinnlich erleben und direkt anwenden. Sie sind unmittelbar involviert, weshalb ich so oft wie möglich mit den Schülern ins Freie gehe. Auch ihre Konzentrationsspanne ist dann deutlich länger.

Hattest du als Kind viel Kontakt zur Natur?

Ich bin als Kind sehr naturnah aufgewachsen. Meine Eltern waren Pfadfinderleiter, weshalb ich viel mit ihnen draußen war und schon früh einen guten Kontakt zur Natur aufbauen konnte. Das hat viele positive, frühkindliche Erinnerungen geprägt. Ich habe gelernt, selbstständig zu sein und mir praktische Fähigkeiten angeeignet wie Knoten knüpfen, Holz schnitzen, Feuer machen, selber kochen und sich selbst versorgen. Obwohl man selbstständiger wird, verbindet einen die Natur aber auch mit anderen Menschen. Man wächst als Kollektiv zusammen und geht achtsamer miteinander um. 

Was hast du gemacht, bevor du zu Phorms kamst?

Ursprünglich wollte ich Tierarzt werden, aber ich hatte keine Lust, die vielen lateinischen Begriffe auswendig zu lernen. Schließlich habe ich mich für ein Biologiestudium entschieden, welches ich trotz des vielen Lateins mit Diplom abgeschlossen habe. Ich hatte danach recht wenig Kontakt zur Natur und war im Marketing- und Medienbereich tätig. Irgendwie hatte ich zu dieser Zeit das Gefühl, dass mir etwas fehlt, konnte es aber nicht benennen.

Wie kamst du dann in den Bildungsbereich?

In der Kita meines damals vierjährigen Sohnes habe ich angeboten, mit den Kindern zu gärtnern, ihnen Insekten zu erklären oder kleinere Experimente durchzuführen. Das war wie ein Weckruf für mich, denn die Kinder haben mir gezeigt, dass es so viel zu entdecken gibt, wenn wir nur unseren Blick auf den Boden richten. Ich habe schnell gemerkt, dass Kinder den Kontakt zur Natur förmlich aufsaugen und mehrere Stunden konzentriert bei der Sache bleiben können. Sie sind so neugierig und wissbegierig. Nicht nur die Kinder waren begeistert und hatten Spaß, sondern auch ich habe für mich gemerkt: Das ist meine Begabung, das ist mein Talent! 2005 machte ich mich als »LABORIS … macht neugierig!« mit Naturerfahrung und Experimentierkursen für Kitas und Schulen selbstständig. Über LABORIS und auf Empfehlung eines ehemaligen Kita-Kindes bin ich im Jahr 2011 für ein Projekt zu Phorms gekommen. Im Schuljahr 2013/14 habe ich schließlich als Lehrer im Quereinstieg begonnen.


Was rätst du Pädagogen, die mit ihrer Gruppe oder Klasse den Kontakt zur Natur fördern möchten?

Themen, die praktisch bearbeitet werden, bleiben einfach besser im Gedächtnis. Zudem sollte das Gelernte mit positiven Emotionen verknüpft und Fehler auch belobigt werden. Heutzutage gibt es oftmals eine Art Mängelpädagogik, die aufzeigt, was noch fehlt, statt zu sagen, was man schon hat oder kann. Deshalb rate ich zu viel positiver Unterstützung, um die Kinder und Jugendlichen zu motivieren und ihre Neugier noch stärker zu fördern.

Wie sieht das in der Praxis aus?

In der Regel beantworte ich eine Frage mit einer Gegenfrage, damit sie selber Zusammenhänge erkennen und spare nicht mit Komplimenten. Es sollte um die ganzheitliche Wahrnehmung gehen, dann ist das Lernen nicht das Ziel, sondern passiert ganz nebenbei. Der Erwerb von Wissen und Fähigkeiten gelingt viel leichter, wenn man etwas Sinnvolles mit Begeisterung verrichtet.

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Boris Braun, integriert Naturerlebnisse in seinen Unterrichtsalltag und gibt Pädagogen Tipps


Buchtipps: Wildnispädagogik

Mit dem Coyote-Guide zu einer tieferen Verbindung zur Natur – Grundlagen der Wildnispädagogik

Band 1: Handbuch für Mentoren 

Band 2: Handbuch der Aktivitäten

Jon Young, Ellen Haas, Evan McGown

Das Coyote Teaching ist die Kunst der »unsichtbaren Schule«, die von den Mentoren der Naturvölker angewandt wurde. Es geht darum, Kinder und auch Erwachsene mit verschiedenen Methoden und Routinen in ihrer Neugier abzuholen, das Lernen mit Eifer und Freude sowie das Austesten neuer Lösungen und das Gebrauchen des eigenen Verstandes zum Bewältigen von Herausforderungen zu fördern. Standardwerk der Wildnispädagogik mit einer tollen Einführung (Band 1) und einer umfangreichen Methodensammlung (Band 2). Die englische Originalausgabe kommt mit einem Buch aus. 

ISBN: 978-3-9806236-6-7

ISBN: 978-3-9806236-7-4 

Naturkundliches Wanderbuch

Heinrich Grupe

Mit Hilfe präziser Beschreibungen, Skizzen, einer naturräumlichen Gliederung (im Feld, am Waldrand, Laubwald, am Teich etc.), Fragen und Anekdoten verlockt dieses auf den ersten Blick unscheinbare Werk aus den 50er Jahren den Leser zum genauen Beobachten und Eintauchen in die natürliche Umgebung. Besonders für Wanderungen sind die zusätzlichen jahreszeitlichen Wanderbücher sehr gut geeignet, da sie kompakt und randvoll mit spezifischen naturkundlichen und phänologischen Details in jeden Rucksack passen.

ISBN: 978-3933497482

Mit Kindern die Natur erleben

Joseph Cornell

Dieses Buch enthält richtungsweisende Grundlagen zum Vermitteln eines positiven Umganges mit der Natur. Cornell zeigt in zahlreichen praxisnahen Anleitungen und gruppendynamischen Methoden, wie man Kindern ökologische Zusammenhänge erklären kann. Dabei präsentiert er seine Pädagogik der lebendigen Stille, der direkten Erfahrung und des Dialoges mit sich und der Natur. Das von ihm postulierte »Flow Learning« gehört seit seinem 1979 erschienenen Werk zu den Klassikern der Natur-Erlebnismethodik.

ISBN: 978-3927279971


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2018/1
Foto: Stefan Wieland | Autoren: Isabel Korch & Nicole Erdmann