Raus in die Natur!

Experte Andreas Weber darüber, warum unsere Kinder auch mal Waldluft schnuppern sollten
Fotos: Stefan Wieland | Text: Andreas Weber | 2018/1

In die große Pause geht Maria Tasker heute wieder beschwingt, beinahe leuchtend. Die Unterrichtsstunde im Wäldchen neben der Schule hat die Biologie-Lehrerin froh gemacht. Während sich zahllose Kolleginnen und Kollegen bundesweit während der kurzen Ruhephase im Lehrerzimmer von der Erschöpfung der ersten Schulstunden zu erholen versuchen, hat Maria Tasker noch Energie von draußen aus der Natur mit hereingebracht.
Es ist dieselbe Energie, die auch ihre Schüler während der vergangenen Unterrichtseinheit mit Leben erfüllt hat: »Die Kinder waren völlig überwältigt«, sagt die 55-jährige gebürtige Britin. Seit zwei Tagen suchen die Kinder der 5. und 6. Klassenstufen im Biologie-Unterricht unter der Laubstreu nach wirbellosen Tieren, nach Käfern, Schnecken, Spinnen, Asseln. »Und heute sind die Lebewesen aus den Blättern geradezu heraus explodiert!«, meint Tasker. Die Kinder haben draußen, beim angewandten Bio-Unterricht auf der trockenen Streu, unter den frühlingshaften Trieben des Wäldchens, nicht nur etwas über das Leben, sondern auch für das Leben gelernt.
Die Morgenrunde in der Natur ist kein Klassenausflug gewesen, sondern Bestandteil von Maria Taskers ganz gewöhnlicher Alltagspädagogik. Sie verlegt ihren Bio-Unterricht an der Phorms-Schule im baden-württembergischen Neckarsulm so oft es geht nach draußen. »Bio-Logie« heißt die Wissenschaft vom Lebendigen – und dieses Lebendige ist eben nicht zuerst in den Büchern zu finden, sondern dort, wo es atmet und wächst. Die Neckarsulmer Josef-Schwarz-Schule hat das Glück, dass sich ein Naturareal gleich nebenan befindet, welches Tasker als erweitertes Klassenzimmer nutzen kann.
»Die Kinder macht es glücklich«, sagt Tasker. Wie manche Phorms-Lehrkräfte ist sie nicht schon seit der eigenen Schulzeit auf den Pädagogenberuf zugesteuert, sondern hat in dem Fach, das sie heute lehrt, in der freien Wirtschaft gearbeitet. Die ausgebildete und promovierte Biologin war in der Entwicklungsabteilung eines internationalen Lebensmittelkonzerns tätig. Doch schon immer fühlte sie sich dem Lehrerberuf hingezogen. Weil sie während des Studiums auch eine pädagogische Ausbildung genossen hatte, fiel ihr der Wechsel leicht.
Und nun kann sie das an andere weitergeben, was ihr selbst in der Jugend am meisten Freude bereitet hat: »Mein Unterricht heißt, mich an die Quelle meines eigenen Interesses zu erinnern«, sagt sie. »Ich habe viele Erinnerungen daran, wie es sich draußen anfühlt. Das hat mich geprägt.« Für viele spätere Naturforscher und Umweltschützer waren die Kindheitserlebnisse in der Natur ausschlaggebend für die Entscheidung, eine Lebenswissenschaft zu studieren. Diesen Funken und diese Leidenschaft will Tasker auf die junge Generation übertragen: »Als Lehrer schafft man es nicht, ein wirklich tiefes Wissen zu vermitteln, jenseits reiner Auswendiglernerei, wenn man den Schülern nicht erlaubt, die Realität wirklich zu spüren.«
Maria Tasker ist an ihrer Schule Pionierin. Draußen-Unterricht gehört nicht verbindlich in den Lehrplan. Naturerfahrung als Schulfach – das ist auch in der Phorms-Schule nicht Standard, obwohl sich das Bildungsinstitut erheblich weiter als die durchschnittliche staatliche Schule auf innovative pädagogische Konzepte einlässt und etwa eine Vorreiterrolle in der interkulturellen Bildung übernimmt. Etwas vom alten pädagogischen Ideal der Herzens- und Lebensbildung schimmert hier durch.
Maria Tasker hilft mit ihrem Unterricht auch einer Entwicklung gegenzusteuern, die unsere Gesellschaft derzeit zutiefst umwälzt: Natur spielt im Leben der Kinder als Erfahrungsraum immer weniger eine Rolle. Es ist eine Entwicklung, die in den letzten 20 Jahren schleichend eingesetzt hat, mittlerweile aber dazu führt, dass Kindheit heute vor allem eine Drinnen-Existenz ist: Gefüttert mit Fakten in der Schule, als Leistungserbringer trainiert beim Freizeitsport, eingelullt von der Verfügbarkeit der Immer-an-Bildschirme, ist der Aufenthalt in einer halbwegs natürlichen Umgebung am Aussterben.
Zunehmend wachsen Kinder – inzwischen über die Hälfte weltweit – in städtischen Umgebungen auf. Technik und Verkehr dominieren ihren Alltag derart, dass viele nicht mehr allein vor die Haustür gehen, geschweige denn durch eine wilde Umgebung stromern. Mehr als die Hälfte der deutschen Stadtsprösslinge spielt fast ausschließlich in geschlossenen Räumen – daheim oder im Kindergarten.
Selbst dort, wo urwüchsige Areale erreichbar wären, geht keiner mehr hin. Auch Landkinder streunen kaum noch durch die Umgebung. Statt draußen Fantasiewelten zu kreieren, versinken sie in den Kunstszenarien elektronischer Medien. In Deutschland starren Kinder zwischen drei und 13 Jahren fast anderthalb Stunden täglich in den Fernseher und fast ebenso lange auf den Computerschirm – die Touchscreens ihres Smartphones nicht eingerechnet. In den USA löschen elektronische Medien sechseinhalb Stunden der täglichen Lebenszeit aus. Ein Neunjähriger, vom Umweltjournalisten Richard Louv befragt, wo er seine Freizeit verbringe, antwortete: »Ich spiele lieber drinnen. Da sind die Steckdosen.«

Einfach mal heute »Waldbaden«!

Noch 1990 gaben in einer deutschen Studie fast drei Viertel der befragten Kinder zwischen sechs und 13 Jahren an, sich täglich im Freien herumzutreiben –  2003 waren es schon weniger als die Hälfte und heute, noch eine Kindergeneration später, ist die Zahl weiter gesunken. Kinder sind in der Natur so selten geworden wie Schmetterlinge. Sie haben auch kaum noch Lust, hinauszugehen. Jüngst zeigte eine Studie, dass zwischen 2004 und 2014 das Interesse der Sechs- bis 13-Jährigen an Natur um zwanzig Prozentpunkte abgenommen hat.
Der Kinderarzt und Pädagoge Herbert Renz-Polster beobachtet, dass »der Raum, in dem Kinder auf eigene Faust spielen und entdecken dürfen, zwischen 1970 und 1990 auf ein Neuntel zurückgegangen« ist. So kommen, meint er, »nach Ausweis der Kinder- und Jugendgesundheitsstudie KiGGS in Deutschland nur 45 Prozent der Sechs- bis Zehnjährigen überhaupt täglich ins Freie.« Nicht mehr als zwölf Prozent der Jugendlichen konnten bei einer Erhebung 2016 drei essbare Früchte nennen, die am Waldrand wachsen.
Man könnte meinen: Was sich in unserer Kultur abspielt, ist eine Ausrottung lebendiger Erfahrung im großen Stil und mit völlig ungewissem Ausgang. Natürlich kann eine einzelne Schule wie Phorms und dort eine einzelne Lehrkraft diese Entwicklung nicht auffangen. Aber sie kann doch eine Ressource erschließen, die so nötig ist wie Wasser zum Trinken. Denn immer noch ist der Mensch lebender Teil eines Ökosystems, das ihn ernährt und mit Sauerstoff zum Atmen versorgt.
Dieses Wissen ist die Grundlage aller Wissenschaft, denn sie soll Lebendigkeit schenken. Wer theoretisch über das Leben Bescheid weiß, ist noch lange nicht lebendig – und hat auch nicht unbedingt Interesse daran, die Lebendigkeit der Biosphäre zu erhöhen. Im Gegenteil: Zu viele abstrakte Informationen über Ökologie und Naturzerstörung können Kinder dazu bringen, sich ganz von dem Thema abzuwenden.
Anders aber die eigene Erfahrung in einer Welt, die im Frühjahr ihr zartes Lichtgrün entfaltet, die Versteck- und Klettermöglichkeiten bietet, in der jeder Halm eine Geschichte erzählt, an die man mit seiner eigenen Fantasie anknüpfen kann. Das sind Erfahrungen, verliehen von nichtmenschlichen Wesen, welche die eigene Lebendigkeit stärken – und zu dieser gehört, sich lebhaft für die Schönheit der Welt einzusetzen. Deren Erfahrung kräftigt, erfrischt – und sie führt zu einem viel effizienteren Lernen als das abstrakte Faktenpauken.
»Es gibt eine Zeit im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren«, sagte der amerikanische Schriftsteller und Pulitzer-Preisträger Wallace Stegner, »wenn ein Eindruck, der nur ein paar Sekunden dauert, für das ganze Leben eingebrannt werden kann. Wenn man ein Kind in dieser sensiblen Phase einer bestimmten Umgebung aussetzt, wird es sie bis zu seinem Lebensende im Herzen behalten.«
Die Schönheit des Lebens draußen ist immer auch Stimme: das Rauschen des Windes, das Rascheln der Gräser, das Knistern der sich öffnenden Knospen, die Rufe der Vögel am frühen Morgen und in der stillen blauen Stunde am Abend, wenn alles sich für die Nacht sammelt. Cristina Follmer arbeitet in ihrem Unterricht mit dieser Stimme des Lebens. Die heute 60-Jährige hat ihren Musikunterricht an der Phorms Schule Frankfurt kurzerhand nach draußen verlegt – und zum Glück ebenso wie ihre Neckarsulmer Kollegin ein Stück halbe Wildnis in fußläufiger Nähe.
»Der Wald schenkt uns natürliche Musik. Das brauchen die Kinder«, sagt die Pädagogin, die wie Maria Tasker nicht auf einer geraden Karriereleiter zu ihrem Arbeitsplatz geklettert ist. In ihrem früheren Leben leitete die Tochter deutscher Eltern den »Coralito«, den kleinen Chor am Teatro Colón im argentinischen Buenos Aires. Aber schon da versuchte Cristina Follmer so oft wie möglich, draußen zu singen. »Im Raum haben Sie immer Widerhall«, sagt sie. »Im Wald nicht.« Dort ist nur Stimme – nicht das Echo eines oft lieblosen Bauwerkes von Menschenhand. Die Stimme des Windes und die Stimme der Kinder.
Follmer lässt ihre Schützlinge – sie unterrichtet die Klassenstufen 1 bis 4 – im Wald natürliche Instrumente sammeln, mit denen sie dann Musik machen: Stöcke als Klanghölzer, Steine als Becken und Xylophone, raschelnde Laubstreu. Über den Köpfen singen die Vögel ihre Melodien. »Ich merke immer wieder, dass die Kinder das brauchen. Es gibt nie einen, der den Unterricht draußen ablehnt«, sagt Follmer.


 

Die Kinder sind konzentrierter, interessierter und wacher

Ein Team von Umweltpädagogen konnte kürzlich die kognitiv anregende Wirkung einer natürlichen Umgebung auf Kinder bestätigen. Sie untersuchten junge Menschen in sogenannten »Naturerfahrungsräumen« – Kindern vorbehaltenen Arealen, die aber nicht wie Spielplätze mechanisch möbliert sind, sondern sich selbst überlassen bleiben. Sie fanden: Kinder in der Natur spielen wesentlich komplexere Spiele als solche in kontrollierten Räumen. Sie können sich viel besser konzentrieren. Und sie sind wacher und interessierter an dem, was um sie herum vorgeht.
Cristina Follmer hat auf einer Lichtung mit einem dicken Baumstamm ein provisorisches Auditorium konstruiert. »Am schönsten wäre ein grünes Klassenzimmer«, sagt die Musiklehrerin, mit ein paar Holzmöbeln auf dem Boden und über den Köpfen das Blätterdach. Follmer fühlt sich mit ihrer Art zu unterrichten bei Phorms gut aufgehoben: »Die Schule versteht, welche Bedürfnisse die Kinder haben, und dass das ständige Unterrichten im Klassenzimmer nicht das Richtige ist.« Auch mit dem örtlichen Chor, den sie unterrichtet, geht Cristina Follmer so oft es geht in den Wald.
Noch vor einem Jahrzehnt wurden Pädagogen wie sie häufig als Ökos oder Esoteriker bespöttelt. Heute hat sich freilich ein Schatz harter Fakten angesammelt, der nachweist, wie heilsam die Waldluft ist: Fast alle gesundheitlich relevanten physiologischen Parameter pendeln sich hier auf einem gesunden Niveau ein. Stresshormone sinken, Abwehrstoffe sprudeln, der Blutdruck sinkt, das Gehirn ist ausgeruht und läuft zu Hochform auf.
»Waldbaden« heißt eine immer populärer werdende Therapieform, welche diese heilsame Wirkung der Natur auf Körper und Gemüt nutzt. Die Phorms-Pädagoginnen Maria Tasker und Cristina Follmer agieren intuitiv genauso: Schulstunde nicht als Stress, sondern als Heilungsmittel. Nicht Fakten eintrichtern, sondern mit Lebendigkeit therapieren. Wenn das nicht Lernen fürs Leben heißt, was dann?

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Dr. phil. Andreas Weber geboren 1967, lebt als Autor, Biologe, Philosoph und Dozent in Berlin und Italien. Zuletzt erschien sein Buch »Sein und Teilen« 2017 im transcript Verlag.


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