Koedukation: Zusammen oder getrennt?

ZUSAMMEN…
„Koedukation verlangt von den Lehrern Genderkompetenz“
Obwohl der gemeinsame Unterricht von Jungen und Mädchen, die Koedukation, in den 1970er/80er Jahren selbstverständlich geworden war, glaubte eine Studie der Universität Dortmund von 1988 zeigen zu können, dass noch immer junge Frauen und Mädchen naturwissenschaftliche Fächer in der Schule und ingenieurswissenschaftliche Studiengänge mieden. Dies gelte nicht für Absolventinnen von Mädchengymnasien.
Tatsächlich findet sich im Wahlverhalten von beliebten Schulfächern eine Tendenz, dass weniger Mädchen als Jungen Naturwissenschaften oder Technik nennen. Dies gilt aber primär für Physik – die auch bei Jungen nicht zu den beliebtesten Fächern zählt –, während Biologie eher zu einem „Mädchenfach“ geworden ist. In den ingenieurswissenschaftlichen Studiengängen sind die Frauen ebenfalls noch immer unterrepräsentiert. Insofern ist es nach wie vor eine pädagogisch relevante Aufgabe für die Schulen, Mädchen und Frauen in diesen Bereichen zu motivieren und zu fördern.
Die zentrale Annahme, dass beides in mono-edukativem Unterricht besser funktionieren kann, beruhte jedoch auf einem Bild, nach dem die Jungen sich im koedukativen Unterricht dominierend verhalten und die Mädchen nicht zum Zuge kommen lassen oder diese sich nicht trauen, Fragen zu stellen, oder ihre Beteiligung an Experimenten nicht einfordern. Zweifellos kann man solche Konstellationen beobachten – sie sind aber weder naturwüchsig noch unvermeidlich.
Zum einen sind Mädchen und junge Frauen mittlerweile sehr viel selbstbewusster geworden und akzeptieren nicht mehr ohne weiteres eine Überlegenheit des männlichen Geschlechts. Zum anderen weiß man aus Forschungen, dass die Einstellung und Haltung der Lehrkräfte eine zentrale Rolle spielt: Wenn sie Naturwissenschaft und Technik für „männlich“ halten, den Mädchen Desinteresse daran unterstellen oder sie nicht für fähig halten, dann wirkt sich das wesentlich demotivierender aus als eine Hilfestellung, die von Mitschülern gegeben wird. Man weiß auch, dass es notwendig ist, naturwissenschaftliche Sachverhalte an ganz verschiedenen Beispielen zu verdeutlichen und entsprechende Erkenntnisse mit ganz unterschiedlichen methodisch-didaktischen Vorgehensweisen zu erläutern, weil Kinder je individuelle Lernstrategien haben und nur bedingt auf ähnliche Erfahrungen zurückgreifen.
Guter naturwissenschaftlicher Unterricht schöpft das breite Spektrum seiner Möglichkeiten aus. Dennoch erfordert seine koedukative Gestaltung zusätzlich Genderkompetenz bei den Lehrkräften: Sie müssen sensibel sein für ihre eigenen Geschlechterbilder: Halten sie Naturwissenschaft und Technik für einen „eigentlich“ männlichen Bereich? Wenn ja, beeinflusst das ziemlich sicher ihre Interaktionen mit Schülern und Schülerinnen. Hier können kollegiale Hospitationen helfen, subtile Mechanismen der Reproduktion von Geschlechterstereotypen aufzuspüren. Weiterhin brauchen sie einen Blick dafür, ob sich in den Interaktionen der Jugendlichen untereinander oder in der Bewältigung von experimentellen Aufgaben „geschlechtsspezifische“ Arbeitsteilungen einschleichen. Hier können klare Anweisungen helfen, die verhindern, dass Mädchen auf das Protokollieren, Jungen auf das Präsentieren „festgelegt“ werden.
Für die meisten Lehrkräfte wie auch für die Schülerinnen und Schüler gilt wohl, dass sie solche Formen von Festlegungen oder von unterschiedlichem Verhalten mittlerweile für überholt halten und glauben, derartiges komme bei ihnen nicht mehr vor. Da sich „geschlechtsadäquates“ Verhalten jedoch im Allgemeinen „doxisch“, also als nicht-bewusstes, nicht-reflektiertes, selbstverständliches Handeln zeigt, muss es erst durch gezieltes Beobachten überprüft werden. Lässt man sich darauf ein, finden sich überraschend viele Elemente von Geschlechtszuschreibungen. Zu solchen Beobachtungen sind bezogen auf den koedukativen Unterricht primär die Lehrkräfte aufgefordert. Sind sie bereit, sich dieser Aufgabe offen zu stellen, dann gewinnen sie an Genderkompetenz und ihr Unterricht profitiert in der Weise, dass sowohl Mädchen als auch Jungen mehr davon haben.
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Hannelore Faulstich-Wieland ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Schulpädagogik an der Universität Hamburg. Die Diplom-Psychologin promovierte in Sozialwissenschaften und habilitierte in Erziehungswissenschaften an der TU Berlin und der Universität Bremen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Koedukation, Geschlechterforschung, Sozialisation und Berufsorientierung.
…ODER GETRENNT?
„Die Koedukation hat ihre Ziele verfehlt!“
Die Durchsetzung des Prinzips der Koedukation als Regelform an öffentlichen und später auch privaten Schulen wurde in den 1960er Jahren in Deutschland als Durchbruch zu mehr Chancengleichheit und Gleichberechtigung gefeiert. Mädchenschulen galten bis dahin häufig als minderwertig und waren nicht selten auch schlechter ausgestattet.
Allerdings dauerte es ziemlich lange, bis überprüft wurde, ob man der erhofften größeren Chancengleichheit und Gleichberechtigung dadurch auch tatsächlich ein großes Stück nähergekommen sei. Da sind zumindest große Zweifel angebracht.
Weder wurden dadurch die geschlechtsdominierten Rollenklischees aufgebrochen noch hat sich eine Angleichung des Lernerfolgs von Mädchen und Jungen in verschiedenen Fächern ergeben, geschweige denn bei der späteren Berufswahl.
Mädchen studieren Sprachen und Geisteswissenschaften, Jungen Mathematik und Naturwissenschaften – diese Aussage ist nicht nur tendenziell nach wie vor gültig. Der Verdacht, dass im koedukativen Unterricht nicht nur das geschlechtstypische Rollenverhalten eine Verstärkung erfährt, sondern auch frühzeitig geschlechtsbestimmte Festlegungen auf vermeintliche Lieblingsfächer erfolgen, lässt sich auch empirisch nachweisen. Wir wissen, dass junge Frauen aus Mädchenschulen zu einem weit überproportionalen Anteil ein naturwissenschaftliches oder technisches Studium aufnehmen. Autorinnen und Autoren der Projektgruppe „FIT- Frauen in der Technik“ konnten zeigen, dass sich im geschlechtergetrennten Informatikunterricht Mädchen freier entfalten und ein breiteres Spektrum von Technikkompetenz entwickeln konnten.
Wir wissen, dass Mädchen über ein geringeres Selbstvertrauen als gleichaltrige Jungen verfügen. Jungs melden sich schon mal, wenn sie etwas nicht genau wissen, Mädchen zeigen meist nur dann auf, wenn sie die Antwort genau kennen. Das führt gerade in Mathematik und den Naturwissenschaften dazu, dass Mädchen sich zurückziehen und das Feld den dominanten Mitschülern überlassen.
In mono-edukativen Klassen ändert sich dies. Die Risikofreudigkeit von Mädchen in diesem Unterrichtsfeld nimmt zu, die Leistungsunterschiede zwischen den Geschlechtern werden geringer, wie Studien des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) herausgefunden haben. Dies führt übrigens auch dazu, dass an reinen Mädchengymnasien, wie es sie in Deutschland vor allem noch in katholischer Trägerschaft gibt, mehr Mädchen in der Oberstufe naturwissenschaftliche Fächer wählen. Sie trauen sich mehr sogenannte Jungenfächer zu.
Während in den letzten Jahrzehnten die Benachteiligung von Mädchen in den Naturwissenschaften im Fokus der Diskussion um Mono- und Koedukation stand, sind jetzt auch die Jungen als Bildungsverlierer in das Zentrum der Diskussion gerückt. Gerade bei der für den Bildungserfolg so wichtigen Lesekompetenz werden sie von den Mädchen in koedukativen Klassen weit abgehängt.
Die moderne Hirnforschung hat herausgefunden, dass Jungen und Mädchen ganz unterschiedlich lernen. Mädchen sind emotional besser erreichbar und speichern Wissen in beiden Gehirnhälften ab, Jungen reagieren mehr auf abstrakte Aufgabenstellungen und speichern Lernergebnisse nur in einer ab. Auch darauf können Lehrkräfte in mono-edukativen Lerngruppen besser Rücksicht nehmen. Es geht nicht um eine grundsätzliche Aufgabe der Koedukation. Aber über eine zumindest phasenweise, auf bestimmte Fächer bezogene verstärkte Einrichtung von mono-edukativen Lerngruppen sollte an allen Schulen ernsthaft nachgedacht werden.
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Heinz-Peter Meidinger ist Bundesvorsitzender des Deutschen Philologenverbandes und Vizepräsident des Deutschen Lehrerverbandes. Außerdem ist er Oberstudiendirektor und Schulleiter des Robert-Koch-Gymnasiums in Deggendorf. Nach seinem Studium der Fächer Deutsch, Geschichte, Sozialkunde und Philosophie in Regensburg, arbeitete er auch als Gymnasiallehrer und Seminarleiter für das Fach Deutsch.