Koedukation: Zusammen oder getrennt?

Sollten Jungen und Mädchen zusammen im Physikunterricht lernen?
AUTOR: HANNELORE FAULSTICH-WIELAND & HEINZ-PETER MEIDINGER | FOTO: SILKE WEINSHEIMER | 2013/2

 

ZUSAMMEN…

„Koedukation verlangt von den Lehrern Genderkompetenz“

Obwohl der gemeinsame Unterricht von Jungen und Mädchen, die Koeduka­tion, in den 1970er/80er Jahren selbstver­ständlich geworden war, glaubte eine Stu­die der Universität Dortmund von 1988 zeigen zu können, dass noch immer jun­ge Frauen und Mädchen naturwissen­schaftliche Fächer in der Schule und ingenieurswissenschaftliche Studiengänge mieden. Dies gelte nicht für Absolventin­nen von Mädchengymnasien.

Tatsächlich findet sich im Wahlverhal­ten von beliebten Schulfächern eine Ten­denz, dass weniger Mädchen als Jungen Naturwissenschaften oder Technik nen­nen. Dies gilt aber primär für Physik – die auch bei Jungen nicht zu den belieb­testen Fächern zählt –, während Biologie eher zu einem „Mädchenfach“ geworden ist. In den ingenieurswissenschaftlichen Studiengängen sind die Frauen ebenfalls noch immer unterrepräsentiert. Insofern ist es nach wie vor eine pädagogisch rele­vante Aufgabe für die Schulen, Mädchen und Frauen in diesen Bereichen zu moti­vieren und zu fördern.

Die zentrale Annahme, dass beides in mono-edukativem Unterricht besser funk­tionieren kann, beruhte jedoch auf einem Bild, nach dem die Jungen sich im koedukativen Unterricht dominierend ver­halten und die Mädchen nicht zum Zuge kommen lassen oder diese sich nicht trau­en, Fragen zu stellen, oder ihre Beteili­gung an Experimenten nicht einfordern. Zweifellos kann man solche Konstellatio­nen beobachten – sie sind aber weder na­turwüchsig noch unvermeidlich.

Zum einen sind Mädchen und junge Frauen mittlerweile sehr viel selbstbe­wusster geworden und akzeptieren nicht mehr ohne weiteres eine Überlegenheit des männlichen Geschlechts. Zum ande­ren weiß man aus Forschungen, dass die Einstellung und Haltung der Lehrkräfte ei­ne zentrale Rolle spielt: Wenn sie Natur­wissenschaft und Technik für „männlich“ halten, den Mädchen Desinteresse daran unterstellen oder sie nicht für fähig halten, dann wirkt sich das wesentlich de­motivierender aus als eine Hilfestellung, die von Mitschülern gegeben wird. Man weiß auch, dass es notwendig ist, natur­wissenschaftliche Sachverhalte an ganz verschiedenen Beispielen zu verdeutlichen und entsprechende Erkenntnisse mit ganz unterschiedlichen methodisch-didakti­schen Vorgehensweisen zu erläutern, weil Kinder je individuelle Lernstrategien ha­ben und nur bedingt auf ähnliche Erfah­rungen zurückgreifen.

Guter naturwissenschaftlicher Unter­richt schöpft das breite Spektrum seiner Möglichkeiten aus. Dennoch erfordert sei­ne koedukative Gestaltung zusätzlich Genderkompetenz bei den Lehrkräften: Sie müssen sensibel sein für ihre eigenen Geschlechterbilder: Halten sie Naturwissen­schaft und Technik für einen „eigentlich“ männlichen Bereich? Wenn ja, beeinflusst das ziemlich sicher ihre Interaktionen mit Schülern und Schülerinnen. Hier kön­nen kollegiale Hospitationen helfen, sub­tile Mechanismen der Reproduktion von Geschlechterstereotypen aufzuspüren. Weiterhin brauchen sie einen Blick dafür, ob sich in den Interaktionen der Jugend­lichen untereinander oder in der Bewälti­gung von experimentellen Aufgaben „geschlechtsspezifische“ Arbeitsteilungen einschleichen. Hier können klare Anwei­sungen helfen, die verhindern, dass Mädchen auf das Protokollieren, Jungen auf das Präsentieren „festgelegt“ werden.

Für die meisten Lehrkräfte wie auch für die Schülerinnen und Schüler gilt wohl, dass sie solche Formen von Festlegungen oder von unterschiedlichem Verhalten mittlerweile für überholt halten und glau­ben, derartiges komme bei ihnen nicht mehr vor. Da sich „geschlechtsadäquates“ Verhalten jedoch im Allgemeinen „doxisch“, also als nicht-bewusstes, nicht-re­flektiertes, selbstverständliches Handeln zeigt, muss es erst durch gezieltes Beob­achten überprüft werden. Lässt man sich darauf ein, finden sich überraschend vie­le Elemente von Geschlechtszuschreibungen. Zu solchen Beobachtungen sind be­zogen auf den koedukativen Unterricht primär die Lehrkräfte aufgefordert. Sind sie bereit, sich dieser Aufgabe offen zu stellen, dann gewinnen sie an Genderkompetenz und ihr Unterricht profitiert in der Wei­se, dass sowohl Mädchen als auch Jungen mehr davon haben.

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Hannelore Faulstich-Wieland ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Schulpädagogik an der Universität Hamburg. Die Diplom-Psychologin promovierte in Sozialwissenschaften und habilitierte in Erziehungswissenschaften an der TU Berlin und der Universität Bremen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Koedukation, Geschlechterforschung, Sozialisation und Berufsorientierung.

…ODER GETRENNT?

„Die Koedukation hat ihre Ziele verfehlt!“

Die Durchsetzung des Prinzips der Koe­dukation als Regelform an öffentlichen und später auch privaten Schulen wurde in den 1960er Jahren in Deutschland als Durchbruch zu mehr Chancengleichheit und Gleichberechtigung gefeiert. Mädchen­schulen galten bis dahin häufig als min­derwertig und waren nicht selten auch schlechter ausgestattet.

Allerdings dauerte es ziemlich lange, bis überprüft wurde, ob man der erhoff­ten größeren Chancengleichheit und Gleichberechtigung dadurch auch tatsäch­lich ein großes Stück nähergekommen sei. Da sind zumindest große Zweifel ange­bracht.

Weder wurden dadurch die geschlechts­dominierten Rollenklischees aufgebrochen noch hat sich eine Angleichung des Lern­erfolgs von Mädchen und Jungen in ver­schiedenen Fächern ergeben, geschweige denn bei der späteren Berufswahl.

Mädchen studieren Sprachen und Geis­teswissenschaften, Jungen Mathematik und Naturwissenschaften – diese Aussa­ge ist nicht nur tendenziell nach wie vor gültig. Der Verdacht, dass im koedukativen Unterricht nicht nur das geschlechts­typische Rollenverhalten eine Verstärkung erfährt, sondern auch frühzeitig ge­schlechtsbestimmte Festlegungen auf ver­meintliche Lieblingsfächer erfolgen, lässt sich auch empirisch nachweisen. Wir wis­sen, dass junge Frauen aus Mädchen­schulen zu einem weit überproportiona­len Anteil ein naturwissenschaftliches oder technisches Studium aufnehmen. Auto­rinnen und Autoren der Projektgruppe „FIT- Frauen in der Technik“ konnten zei­gen, dass sich im geschlechtergetrennten Informatikunterricht Mädchen freier ent­falten und ein breiteres Spektrum von Technikkompetenz entwickeln konnten.

Wir wissen, dass Mädchen über ein ge­ringeres Selbstvertrauen als gleichaltrige Jungen verfügen. Jungs melden sich schon mal, wenn sie etwas nicht genau wissen, Mädchen zeigen meist nur dann auf, wenn sie die Antwort genau kennen. Das führt gerade in Mathematik und den Natur­wissenschaften dazu, dass Mädchen sich zurückziehen und das Feld den domi­nanten Mitschülern überlassen.

In mono-edukativen Klassen ändert sich dies. Die Risikofreudigkeit von Mädchen in diesem Unterrichtsfeld nimmt zu, die Leistungsunterschiede zwischen den Ge­schlechtern werden geringer, wie Studien des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) herausgefunden haben. Dies führt übrigens auch dazu, dass an reinen Mädchen­gymnasien, wie es sie in Deutschland vor al­lem noch in katholischer Trägerschaft gibt, mehr Mädchen in der Oberstufe natur­wissenschaftliche Fächer wählen. Sie trau­en sich mehr sogenannte Jungenfächer zu.

Während in den letzten Jahrzehnten die Benachteiligung von Mädchen in den Naturwissenschaften im Fokus der Dis­kussion um Mono- und Koedukation stand, sind jetzt auch die Jungen als Bil­dungsverlierer in das Zentrum der Dis­kussion gerückt. Gerade bei der für den Bildungserfolg so wichtigen Lesekompe­tenz werden sie von den Mädchen in koedukativen Klassen weit abgehängt.

Die moderne Hirnforschung hat her­ausgefunden, dass Jungen und Mädchen ganz unterschiedlich lernen. Mädchen sind emotional besser erreichbar und speichern Wissen in beiden Gehirnhälf­ten ab, Jungen reagieren mehr auf ab­strakte Aufgabenstellungen und spei­chern Lernergebnisse nur in einer ab. Auch darauf können Lehrkräfte in mono-edukativen Lerngruppen besser Rück­sicht nehmen. Es geht nicht um eine grundsätzliche Aufgabe der Koedukati­on. Aber über eine zumindest phasen­weise, auf bestimmte Fächer bezogene verstärkte Einrichtung von mono-edukativen Lerngruppen sollte an allen Schu­len ernsthaft nachgedacht werden.

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Heinz-Peter Meidinger ist Bundesvorsitzender des Deutschen Philologenverbandes und Vizepräsident des Deutschen Lehrerverbandes. Außerdem ist er Oberstudiendirektor und Schulleiter des Robert-Koch-Gymnasiums in Deggendorf. Nach seinem Studium der Fächer Deutsch, Geschichte, Sozialkunde und Philosophie in Regensburg, arbeitete er auch als Gymnasiallehrer und Seminarleiter für das Fach Deutsch.


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