„Kinder machen alles mit, auch jeden Unsinn“

Dr. Salman Ansari ist Experte für frühkindliche Lernkonzepte. Mit uns sprach er über den Nutzen von Frühförderungsprogrammen, Kinder als Naturforscher und andere Missverständnisse
FOTO: SILKE WEINSHEIMER | 2013/2

 

Bildungsthemen: Herr Ansari, Sie beschäftigen sich mit der Frühförderung von Kindern in Kindergärten. Wie sinnvoll finden Sie solche Programme, mit denen Kinder schon früh an die Naturwissenschaften herangeführt werden sollen?

Salman Ansari: Ich nutze lieber den Begriff unterstützen als fördern. Die Frage ist nur wie und was unterstützt man? Man kann natürlich nur das unterstützen, was schon da ist. Erst einmal muss man herausfinden, was die Kinder bereits wissen und wie man dieses Wissen nutzbar machen kann, damit die Kinder ausgehend von ihrem Wissen et­was Neues erfahren und lernen. Das ist die Sicht der Lernpsychologie und der Kognitionswissenschaften.

Was genau bedeutet denn der Begriff Frühförderung für Sie?

Die Art und Weise, wie Frühförderung im Allgemeinen verstanden wird, finde ich nicht treffend, weil man von einer be­stimmten akademischen Sichtweise aus­geht und dabei vergisst, wie Kinder über­haupt lernen. Mir geht es darum, wie Kin­der lernen, wie Menschen lernen. Das ist für mich das Wichtigste und nicht wie be­stimmte vorgeformte Lernaktivitäten als Frühförderung gelten, ohne, dass man das wirklich definieren kann.

Wie ist denn Ihre Definition?

Wenn Kinder als Forscher definiert wer­den, dann muss man überlegen, wie Kin­der forschen und wie die richtigen For­scher forschen. Der Forscher geht immer von einer bestimmten Hypothese aus. Die­se Hypothese überprüft er dann mit Hil­fe eines Experiments, einer Feldstudie, ei­ner Statistik oder einer Umfrage. Dann muss er das Experiment entwerfen, er muss die Parameter festlegen, was will er variieren und was nicht? Das heißt, bei al­lem geht er davon aus, dass er etwas Kon­trollierbares tut. Beim richtigen Experi­mentieren muss die Kontrolle da sein, die Methode und die Planung. Bei Kindern läuft der Prozess ganz anders ab. Sie pla­nen nicht, sie kontrollieren nicht in ihrem Forscherdrang und sie haben auch keine Methode, die man als spezifisch natur­wissenschaftlich bezeichnen kann.

Wie bewerten Sie denn die zahlreichen Initiativen zur Frühförderung, die teilweise auch vom Bundesbildungs­ministerium unterstützt werden?

Ich sehe die Frühförderungsaktivitäten, wie zum Beispiel das Haus der kleinen Forscher oder das Science Lab in München sehr skeptisch. Bei vielen der Initiativen wird nicht darüber reflektiert, was diese dem Kind eigentlich bringen. Ob es ihm hilft, weiterzudenken. Meist bringt es Kinder nicht weiter. Kinder machen natürlich al­les begeistert mit, auch jeden Unsinn, weil sie selber nicht entscheiden können, was für ihre seelische und geistige Entwicklung von Bedeutung ist und was nicht. Das ist die Aufgabe der Erwachsenen. Deshalb ist für mich auch ‚Begeistertmachen‘ kein Krite­rium für das Lernen.

Aber Sie selber unterstützen doch den Gedanken der Frühförderung. Was genau kritisieren Sie an den genannten Initiativen?

Naturwissenschaften sind etwas Kompli­ziertes, genau wie die Kategorien Experi­ment und Forscher. Man muss genau de­finieren, was man darunter versteht. Ich habe schon erklärt, was ich unter experi­mentieren verstehe. Das ist fachlich und akademisch definiert, und kein vager Be­griff. Experimente im Kontext von Früh­förderung aber sind nur Bestätigungsex­perimente. Eine trial-and-error-Phase gibt es da nicht. Das heißt, es hat mit For­schung gar nichts zu tun, sondern eher mit Überrumpelung. Man sagt den Kin­dern: ‚Schaut mal, es ist so wie wir Euch erzählen. Das beweisen wir Euch mit dem Experiment.‘ Und so ist bei all diesen Ex­perimenten der forschende Aspekt, wie Kinder selbständig etwas Neues entdecken, wo auch etwas schiefgeht, wo Irrtümer dabei sind, nicht gegeben. Des­halb halte ich das für Leerlauf und nicht nötig und für eine unnötige finanzielle Ausgabe.


Nach dem Pisa-Schock gab es ja den Wunsch, vermehrt in die frühkindliche Bildung zu investieren. So sollen Kinder schon früh an die Naturwissenschaften herangeführt werden um in der weiteren Schullaufbahn bessere Leistungen zu erzielen. Für wie erfolgversprechend halten Sie diese Programme?

Nach den Pisa-Ergebnissen wuchs auch der Druck auf die Kindergärten und Grundschulen. Aber eigentlich beschäftigt sich die Pisa-Studie nicht mit dieser Al­tersgruppe, sondern mit 14- bis 15-jähri­gen Kindern. Es wird argumentiert, weil im Rahmen der Pisa-Studie die deutschen Schulen so schlecht abgeschnitten hätten, wäre es besser, in Kindergarten und Grund­schule viel mehr Naturwissenschaften und Mathematik anzubieten, damit sie dann später bessere Schüler sein werden und auch wenn sie fertig sind mit der Schule, vielleicht Naturwissenschaften oder Tech­nik studieren. Das ist reine Spekulation, das kann nämlich genauso ein Bumerang sein, das heißt, die Kinder haben vielleicht die Nase voll von diesem dauernden Ex­perimentieren.

Aber grundsätzlich fällt es doch gerade Kindern leichter, neue Dinge zu lernen. Ist es nicht von daher sinnvoll, möglichst früh damit zu beginnen?

Das ist noch so eine Behauptung, in frühen Jahren gingen in den Gehirnen Fenster auf, die später angeblich wieder zugehen. Das war eine voreilige Behauptung von Hirnforschern, die Eltern verunsichert hat. Viele Eltern denken: ‚Mein Kind muss ganz viel lernen, solange die Fenster auf sind und bevor sie wieder zugehen.‘ Diese The­se stimmt aber nicht. Wir wissen heute, dass wir ein Leben lang lernen und dass es solche Fenster nicht gibt. Es stimmt, dass in frühen Jahren alle schnell zu begeistern sind, dass der Lerneifer enorm ist, vergli­chen mit älteren Menschen. Aber von Fen­stern, die auf- und zugehen, kann keine Rede sein.


Welche Rolle spielt denn das Familienleben zu Hause im Lernprozess?

Wenn die Umgebung viele Anreize bietet, sehr stimulierend ist, über verschiedene Dinge zu reflektieren, dann lernen Kinder auch mehr. Das gilt auch für zu Hause, wenn dort viel gesprochen wird, wenn dort viele anregende Dinge passieren, wenn Ge­schwister dabei sind, dann lernen diese Kinder sehr viel mehr als in einem Haus, in dem wenig gesprochen wird, in dem wenig Aktivitäten stattfinden. Für das Ler­nen ist eine Umgebung wichtig, die Kin­der dazu animiert, Selbständigkeit zu er­lernen, eigene Ideen zu entwickeln und aktiv zu handeln. Sie sollten ermuntert werden, Dinge selbständig zu machen und kreativ zu sein. Die Frage, wie diese Um­gebung sein soll, müssen sich die Erwach­senen immer wieder stellen. Wie können sie so eine Umgebung erzeugen, die Kin­der anregt, viele Fragen zu stellen, bereit­willig ihre Welt zu entdecken und neue Kompetenzen zu entwickeln?

Wie nehmen Sie Kindheit heute wahr? Haben Sie das Gefühl, Kinder haben noch genug Gelegenheit, Dinge selbst zu entdecken?

Deutschland ist ein reiches Land. Kinder hier sind sehr privilegiert. Sie müssen nicht hungern und haben wirklich die Mög­lichkeit, das Geschenk der Kindheit zu ge­nießen, unbehelligt von irgendwelchen Sorgen. Das ist der eine Aspekt. Der zwei­te Aspekt ist, dass in diesem selben rei­chen Land wenig für die Kinder getan wird. Egal durch welche Stadt ich gehe, ich frage mich immer, woran ich erkennen soll, dass dort Kinder wohnen. Bis auf ein paar wenige, durchorganisierte, TÜV-ge­prüfte Spielplätze sehe ich da sehr wenig. Es gibt kaum etwas für Kinder selber zu er­leben. Es gibt keine wilden Spielplätze, wo sie selber etwas bauen können oder wo sie Verstecke konstruieren können. Es ist ei­ne gewisse Gegenläufigkeit zur materiellen Freiheit da. Und diese Gegenläufigkeit be­steht darin, dass die Erwachsenen die Um­welt sehr viel stärker beherrschen, zum Beispiel durch die Autos.

Was war in Ihrer Kindheit anders?

Kinder haben heute ungehinderten Zu­gang zu allen verfügbaren Informationen, was überhaupt nicht gut ist. Meine Gene­ration wusste als Kind zum Beispiel nicht, was in China passierte, ob dort ein Atom­unfall passiert ist. Es gibt viele entsetzliche Informationen, an denen die Kinder heu­te viel zu früh teilhaben. Das Ganze ist sehr ambivalent. Wir müssen versuchen, Kinder frei zu halten von den Informa­tionen, mit denen sie ohnehin noch nichts anfangen können. Es nützt ihnen nichts, es beunruhigt sie nur. Da tauchen dann Fragen auf wie: Kann der Mond runter­fallen und die Welt kaputt gehen? Solche Szenarien haben Kinder schon im Kopf.

Was halten Sie vom Einsatz neuer Medien in der Kita?

Davon halte ich gar nichts. Die Kinder brauchen das nicht. Schauen Sie, Genera­tionen vor uns hatten keinen Computer und sind trotzdem zurechtgekommen. Einstein hatte keinen Computer und hat trotzdem große Sachen entdeckt. Gerade schöpferische Leute brauchen keinen Computer. Der Computer ist ein gutes Ins­trument, aber erst, wenn man wirklich et­was damit anfangen kann. Die Frage ist doch: Wozu braucht ein Kind einen Com­puter? Da fällt mir nichts ein. Was könn­te es mit dem Computer Neues lernen?

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Salman Ansari ist promovierter Chemiker und Lernpädagoge Er wurde 1941 in Indien geboren und lebt seit den Sechzigerjahren in Deutschland. Er hatte Lehraufträge an verschiedenen Universitäten inne und entwickelte für die Telekom-Stiftung das Projekt »Kinder fragen Kinderfragen«. Ansari ist Experte für frühkindliches Lernen. Sein neues Buch „Rettet die Neugier: Gegen die Akademisierung der Kindheit“ erschien im Frühjahr im Fischer Verlag.


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