Immersion in Willkommensklasse

In speziellen Klassen lernen Flüchtlingskinder die deutsche Sprache, bis sie dem normalen Unterricht folgen können – natürlich immersiv, denn sie tauchen mit allen Sinnen in die Sprache ein
AUTOR: IRIS RÖLL | PHOTO: SILKE WEINSHEIMER | 2016/1

 

Auf den ersten Blick eines dieser typischen Erstklässler-Klassenzimmer: An der Wand hängen die Buchstaben des Alphabets mit passenden Tierbildern, die Wochentage, die Liste mit den Diensten: Einsammler, Stuhldienst, Tafelwischen – das Übliche. Was nicht ganz so üblich ist, sieht man erst auf den zweiten Blick. Die wichtigsten Schulutensilien hängen mit Name und Bild auf bunten Karten an der Wand: Radiergummi, Bleistift, Spitzer. Dann die Wochentage und schließlich die großen bunten Plakate mit den Konjugationen deutscher Hilfsverben gleich neben der Tafel.

Und die 19 Kinder, die jetzt um kurz vor acht in das Klassenzimmer im zweiten Stock der schönen alten Simmern Mittelschule in München hineinwuseln, sind schon gar keine typischen Erstklässler. Die Jungen und Mädchen sind zwischen zehn und zwölf Jahre alt, sie kommen aus Nigeria, Albanien, dem Irak oder Syrien, aus Somalia, Kroatien, Ungarn, aus Bulgarien, Serbien, Rumänien und Griechenland. Ihre einzige Gemeinsamkeit: Sie sprechen kein oder zu wenig Deutsch, um eine normale Regelklasse besuchen zu können. Deswegen gehen sie hier in eine sogenannte Übergangsklasse, in die Ü5.

Nicht nur ihre Herkunftssprachen sind völlig unterschiedlich, auch die intellektuellen Fähigkeiten und der Bildungshintergrund. Manche haben noch nie eine Schule besucht, andere nur Koranschulen. Einige können nicht addieren und subtrahieren, andere wollen schon Wurzeln ziehen. Insofern sind sie doch irgendwie alle Erstklässler, zumindest im deutschen Schulsystem.

Vor ihnen steht Julie Schulz. Die junge Lehrerin mit den langen dunklen Haaren und der dicken Erkältung startet heute mit einem Ratespiel. Sie nennt Dinge aus dem Lebensumfeld der Kinder, die Schülerinnen und Schüler müssen Kärtchen mit dem passenden Begleiter hochhalten: Stift, Mütze, Kopf … Bei Hose liegen fast alle falsch. Nur Lazar aus Serbien weiß es und gewinnt. „Noch eine Runde?“, fragt Julie Schulz. „Jaaaaaa!“, schreien die Kinder. Die zweite Runde gewinnt Adna aus Somalia, die ein großes Kopftuch trägt und nur flüsterleise spricht, mit „die“ Hand. Nic aus Nigeria versucht die ganze Zeit zu schummeln, aber seine 18 Klassenkameraden weisen ihn streng zurecht. Petzen kann man auch schon nach 30 Tagen Deutschunterricht.

Aber wie bringt man ausländischen Kindern, deren Herkunftssprache man überhaupt nicht spricht, Deutsch bei? Der Wissenschaftler sagt: Mit der Immersionsmethode, also dem völligen Eintauchen in die neue Sprache.

Julie Schulz sagt als erstes: „Mit Empathie!“ Daneben ist aber eine ordentliche Portion Didaktik mit im Spiel. Die Lehrerin arbeitet viel mit Bildkarten, mit Wiederholungen und mit Gesten: Bei „Ich“ legt sie sich die Hände auf die Brust, bei „Du denkst nach“ den Finger an die Stirn. „Meine Schwester ist gehörlos. Ich kann mich also gut darauf einstellen, dass mich jemand nicht versteht“, sagt die 31-Jährige. Eine spezielle Ausbildung für Deutsch als Zweitsprache hat sie nicht, aber bislang drei Fortbildungen dazu besucht. Nach ihrem Referendariat in Niederbayern wurde sie gleich ins kalte Wasser geworfen. „Ich wusste nicht mal, was Übergangsklassen sind“, erzählt sie von ihren Anfängen an der Simmern-Schule vor gut einem Jahr.

Aus der Zufallsbekanntschaft wurde eine große Liebe. „Die Arbeit in dieser Klasse gibt mir unheimlich viel“, sagt die junge Frau. „Hier sind die Schüler so lern- und wissbegierig und ich habe das Gefühl, dass ich mit meiner Arbeit ihr Leben wirklich verbessern kann, dass ich ihnen etwas Bleibendes mitgeben kann.“ Das ist wohl tatsächlich so. Der erste Lehrer in der fremden Sprache – das ist eine ganz besondere Beziehung.

An der Simmern-Schule begleiten die Lehrer die Übergangsklassen zwei Jahre lang. Schulz’ Chefin Angelika Thuri-Weiß erzählt von ehemaligen Schülern, die immer wieder gern in der Mittelschule vorbeischauen. Erst vor kurzem habe ein Pianist angerufen, ein ehemaliges Flüchtlingskind aus Bulgarien, um seinen ersten Klassenlehrer zu einem Konzert einzuladen. „Ich habe Herrn Grießer alles zu verdanken!“, sagte er der Schulleiterin am Telefon. Solche Erfolgsgeschichten hält die Simmern-Schule hoch, denn sie motivieren Eltern, Kinder und Lehrer gleichermaßen. Die von Fahima aus Afghanistan etwa, die mit 17 allein nach Deutschland kam und heute BWL studiert. Oder Renas aus dem Irak, der mit 16 Jahren ebenfalls allein nach München kam. Mittlerweile besucht er nach der Zahnarzthelfer- und Zahntechniker-Ausbildung die Berufsoberschule, um sein Abitur zu machen. Danach will er Zahnmedizin studieren.

Davon sind Katja und Mihailo, Ema, Nicolina und ihre Klassenkameraden noch weit entfernt. Sie bilden die Weltpolitik im Kleinen in diesem Klassenzimmer ab: Familien aus anderen EU-Ländern, die nach Deutschland übersiedeln, aber auch die klassischen Schicksale, die man aus der Tagesschau kennt. Dara aus Syrien etwa ist mit ihrer Familie im Boot über das Mittelmeer gekommen. Mohammed ist aus dem Irak mit zehn Jahren allein und ohne Eltern nach Deutschland geflohen.

Sie alle schauen jetzt gespannt Julie Schulz zu, die pantomimisch Verben vorführt. Die Schülerinnen und Schüler sollen dazu ganze Sätze bilden. Das klappt nach nur sechs Wochen Deutschunterricht erstaunlich gut: „Ich weiß gut Gitarre spielen“, versucht es Nic. „Mein Hund tanzt“, sagt Dara. „Ich werfe eine Tomate“, erzählt Lazar. Die Lehrerin lobt, verbessert, lacht mit den Kindern über lustige Sätze. Die Jungen und Mädchen melden sich fast die ganze Zeit. Aber sie sind auch ganz normale Zehn- bis Zwölfjährige, die Quatsch machen, sich gegenseitig ärgern und herumalbern, sobald Julie Schulz sich umdreht.

„Eigentlich könnte ich mich den ganzen Tag mit den Schülern unterhalten. Das bringt für das alltägliche Leben am meisten“, sagt die junge Lehrerin. Sie hat sehr viel Freiheit beim Unterrichten – gerade in den zehn Deutschstunden pro Woche – aber doch auch eine verbindliche Verbenliste, die sie mit den Kindern durchnehmen muss. Die Jungen und Mädchen sollen eben nicht nur fit für den Schulhof werden, sondern auch für den Unterricht in den Regelklassen, den sie normalerweise nach zwei Jahren besuchen. Deshalb steht auch richtiger Grammatikunterricht auf dem Stundenplan: Warum steht bei „Du tanzt“ nach dem z kein s, wie sonst in der 2. und 3. Singularform? Eine Ausnahme eben. Da hilft nur abschreiben und auswendig lernen. „Wir schreiben unheimlich viel. Das ist bestimmt schon das dritte oder vierte Heft nach sechs Wochen“, erzählt Julie Schulz.

In den ersten Tagen war daran noch nicht zu denken. Da saß die Lehrerin mit den Kindern im Stuhlkreis und wiederholte immer und immer wieder: „Ich heiße …“, „Ich komme aus …“, „Ich bin … Jahre alt“. Von da aus eroberten sich die Schülerinnen und Schüler die neue Sprache. Und die Immersion wirkt natürlich nicht nur im Deutschunterricht. Auch in Mathe, Sport oder Musik, auf dem Spielplatz, in der Flüchtlingsunterkunft, beim Bäcker oder Kinderarzt lernen die Kinder auf diese Weise Deutsch. Nur so ist es zu erklären, dass sie nach nur sechs Wochen Unterricht schon so viel Deutsch verstehen und sprechen.

Auch Karen Lupu-Jacobsohn war überrascht über die guten Sprachkenntnisse ihrer Schützlinge. Sie kommt aus Kanada und unterrichtet eigentlich Mathe und Kunst an der Münchner Phorms- Schule. Jeden Freitagnachmittag kommt sie in eine Flüchtlingsunterkunft, um dort Kunstprojekte mit den Kindern zu gestalten. „Die meisten sind seit einem Jahr hier“, erzählt die 41-Jährige. „Wir korrigieren uns gegenseitig – sie helfen mir in Grammatik, ich habe mehr Vokabeln.“ Gemeinsame Sprache ist Deutsch. Über die Kunst bekommt sie einen ganz eigenen Zugang zu den Kindern. Jetzt, nach einigen Wochen, öffnen sie sich mehr und mehr, erzählen von schlimmen Erlebnissen, von sterbenden Menschen.

„Mohammed hat anfangs fast die ganze Zeit geschrien oder um sich geschlagen, weil er einfach nichts verstanden hat und völlig überfordert war“, erinnert sich auch Julie Schulz. „Ich dachte in den ersten Tagen immer wieder: Wie soll ich das nur schaffen?“ Der Zehnjährige aus dem Irak konnte auch nicht lesen oder schreiben. Aber es wurde und wird von Tag zu Tag besser. Inzwischen erinnert er seine Lehrerin regelmäßig, falls die mal vergessen hat, ihn zu loben: „Frau Schulz, Mohammed gut gemacht!“ Und dass die Immersionsmethode auch auf bayerisch gut funktioniert, hat der kleine Iraker seiner Lehrerin erst kürzlich bewiesen: Da drehte er sich zu einem Klassenkameraden um, der gerade gestört hatte und beschwerte sich empört: „Ja sag amal!“

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Etwa 100.000 ausländische Kinder im schulpflichtigen Alter sind allein 2014 nach Deutschland gekommen. Für sie wurden die sogenannten Übergangs-, Willkommens- oder internationalen Klassen an Grund- und Mittel- oder Oberschulen eingerichtet. Bayern hatte zu Beginn dieses Schuljahrs zum Beispiel 471 solche Klassen, Berlin 400, in Niedersachsen und Sachsen waren es jeweils 300. Dort lernen die ausländischen Kinder nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch alle anderen Schulfächer. Nur Englisch fehlt im Stundenplan. Das müssen die Kinder später in den Regelklassen nachlernen, sind dafür aber – zum Beispiel in Bayern – ein Jahr lang notenbefreit. Wer nicht mehr schulpflichtig ist, kann oft in speziellen Berufsschulklassen die deutsche Sprache lernen. Auch die Schulkultur hierzulande ist für die Familien in der Regel neu. Was sind Hausaufgaben? Welche Materialien braucht ein Schüler? Warum muss man Bußgeld zahlen, wenn man sein Kind nicht täglich in die Schule schickt?


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