»Früher war das eben anders«

Was die Autorin, Redakteurin und ehemalige Bloggerin Katja Reim von ihrer Tochter zum Thema Privatsphäre in der Öffentlichkeit während eines Einkaufbummels lernen konnte, hielt sie auf ihrem Blog »Mein Computerkind« fest
Autor: Katja Reim | Illustration: Friederike Schlenz | Foto: Nina Rücker | 2019/1

Jugendsünden, die auf Instagram & Co. geteilt werden. Smartphones, die jeden Moment live übertragen können. Landkarten-Apps, die unsere Wege sammeln. »Es kann sein, dass Privatsphäre eine Anomalie ist«, meinte Vint Cerf, Informatiker und einer der Wegbereiter des Internets. Erst mit der industriellen Revolution und den wachsenden Städten sei das Gefühl der Anonymität entstanden. Vorher hätte es diese Form der Privatsphäre kaum gegeben, weil sich die Leute in kleinen Ortschaften ständig gegenseitig beobachteten, erklärte Cerf, der unter dem Titel »Chief Internet Evangelist« als Aushängeschild für Google arbeitet. Das heißt für uns wohl, dass mit der fortschreitenden digitalen Vernetzung unsere Gesellschaft wieder zur Dorfgemeinschaft wird, in der man sogar von der Zahnbürste observiert werden kann.

Deshalb haben wir von Anfang an versucht, unserer Tochter ein Gefühl für den Wert von Daten und Privatsphäre zu vermitteln. Wir haben ihr erklärt, dass Laptop- und Tabletkameras wie Türen sind, durch die Unbefugte in unser Leben schauen könnten. Und das wir sie zu unserem Schutz abkleben. Wir haben mit ihr darüber gesprochen, dass wir unsere Einkaufsdaten nicht auf Kundenkarten sammeln lassen, auch wenn es dafür Punkte und Geschenke gibt, weil wir keiner allwissenden Verkäuferin gegenüberstehen wollen. Inzwischen ist Maria neun Jahre alt, und ihr Blick für Privatsphäre ist schärfer als meiner.

Damit überraschte sie mich vor Kurzem, als wir gemeinsam einen Badeanzug für sie kauften. Alle Umkleidekabinen waren besetzt. Ich bat meine Tochter im Kaufhaus, sich neben dem Kleiderständer, den Badeanzug kurz überzuziehen, um zu sehen, ob er passt. Maria wollte das auf keinen Fall, und ich verstand nicht, warum. »Du sollst dich doch nicht ausziehen, sondern das Ding nur überstreifen«, sagte ich genervt. Und trotzdem weigerte sich mein Kind. In diesem Moment wurde eine Umkleidekabine frei, so dass die Situation nicht eskalierte.

Am Abend schnitt Maria das Thema noch einmal an und sagte mir, dass sie es doof fand, wie ich sie gedrängt hatte. Ich entschuldigte mich, weil ich eine von ihr definierte Grenze nicht akzeptiert hatte. Dennoch verstand ich ihre Weigerung nicht, hielt sie für vorpubertäres Schamgefühl. »Früher war das eben anders«, entschuldigte Maria meine Ignoranz und ich begriff immer noch nicht. Klar, früher war Nacktbaden verbreiteter als heute, aber was hatte das mit unserem Umkleide-Erlebnis zu tun? Nichts, wie mir mein Kind geduldig erklärte. »Früher wurde man noch nicht überall in den Geschäften gefilmt.« Jemand sitze also vor den Bildschirmen und könne sie dabei beobachten, außerdem könne die Aufnahme aus dem Zusammenhang gerissen und weiterverbreitet werden.

Wenn ich das nächste Mal im Laden schnell was überstreifen will, werde ich an ihre Worte denken – und in die Umkleidekabine gehen.


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Katja Reim

ist stellvertretende Chefredakteurin der Zeitschrift »SUPERillu« und Autorin des Buches »Ab ins Netz?! Wie Kinder sicher in der digitalen Welt ankommen und Eltern dabei entspannt bleiben«. Über die frühkindliche Medienerziehung ihrer Tochter schrieb sie im Blog »Mein Computerkind«.


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