Auf die Lesefähigkeit kommt es an – Wie moderne Medienerziehung gelingen kann

Kinder verbringen deutlich mehr Zeit mit ihrem Smartphone, als gut für sie ist. Damit Eltern und Pädagogen im Internetzeitalter das Heft des Handelns in der Hand behalten, plädiert der Berliner Medienexperte und Jugendbuchautor Thomas Feibel für eine Ausweitung des Begriffs der Lesefähigkeit
Autor: Thomas Feibel | Illustration: Friederike Schlenz | Foto: Die Hoffotografen | 2019/1

Wie sehr sich die Medienerziehung in den letzten Jahren verändert hat, lässt sich sehr gut am Smartphone festmachen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Medien verlangen Eltern von ihren Kindern im Umgang damit etwas, das sie selbst nicht können: widerstehen. Beim Fernsehen haben wir seinerzeit gelernt, morgens nicht sofort die Glotze einzuschalten, sondern erst, wenn der Arbeitstag und die Aufgaben des Alltags hinter uns liegen. Aber der Fernseher gibt auch nicht pausenlos Signaltöne von sich – im Gegensatz zum Smartphone, das heute alles unterbricht: Arbeit, Unterricht oder Mahlzeiten. Wir führen das Gerät so selbstverständlich mit uns herum wie Hausschlüssel und Brieftasche. Sicher, das Smartphone bringt unglaublich viele Vorteile und Erleichterungen, vor allem im Berufsleben. Von überall aus arbeiten und jederzeit reagieren zu können, ist ein echter Fortschritt. Nur hat sich dadurch bei vielen Erwachsenen auch der Feierabend verschoben. Aus dem Segen des Komforts ist der Fluch der ständigen Erreichbarkeit geworden. Sie kommen nicht mehr zur Ruhe.

Nur: Wie soll eine gute Medienerziehung bei Kindern und Jugendlichen funktionieren, wenn wir bisher selbst noch keine Antwort gefunden haben, wie ein gesunder Umgang damit aussehen kann? Der Weg zur richtigen Balance ist nur ein Baustein. Es kommt ein weiterer, gänzlich neuer Aspekt beim Thema Medienerziehung hinzu.

Die Themen der modernen Medienerziehung betreffen uns alle

Noch vor wenigen Jahren sahen unsere Erziehungsprobleme so aus: Kinder und Jugendliche fanden bei Computerspielen oft kein Ende, und Eltern versuchten verzweifelt, diese übertriebene Nutzung einzudämmen. Die Eltern selbst spielten aber eben keine Videogames. Der fundamentale Unterschied besteht heute darin, dass wir Kinder vor Risiken und Gefahren bewahren wollen, die uns alle selbst in höchstem Maße betreffen. Ganz gleich, ob es sich um Fake News, Hate Speech oder Big Data handelt. Wir wollen unsere Kinder schützen, fördern und begleiten. Bloß lässt sich die moderne Medienerziehung nicht länger von unserer eigenen Haltung und Handlungsweise trennen. Damit Erziehung erfolgreicher gelingen kann, müssen wir uns als Vorbilder selbst mehr Wissen aneignen, um Erkenntnisse konsequent umzusetzen. Nur wie? Durch Lesefähigkeit.

Lesefähigkeit statt Medienkompetenz

Oft heißt es, Kinder und Jugendliche würden sich viel besser mit moderner Technologie auskennen als Erwachsene. Aber machen wir uns nichts vor: Zweifellos finden Kinder und Jugendliche bei neuen Medien einen schnelleren Zugang – dabei handelt es sich jedoch um reine Bedienkompetenz. Sie agieren deutlich müheloser mit technischen Geräten oder sozialen Netzwerken – die Folgen ihres Handelns im Netz können sie aber meist nicht einschätzen. Sie wissen etwa nicht, was mit ihren Daten geschieht oder unterschätzen die Wirkung eines dummen Streiches, der online schnell in Cybermobbing mit fatalen Folgen umschlagen kann. Was ihnen fehlt, ist die Einordnung, und die fällt in den Zuständigkeitsbereich von Eltern und Pädagogen.

Die Antwort auf diese Problematik lautete bisher: Medienkompetenz. Dieser Begriff ist über die Jahre allerdings etwas angestaubt. Jeder versteht etwas anderes darunter, und nur selten wird er den blitzschnell auftretenden Veränderungen im Netz gerecht. Der Terminus der Lesefähigkeit ist da exakter, einheitlicher und umfassender. Denn Lesefähigkeit macht klar, worum es geht: Wie wir lesen, zeigt auch, wie wir etwas deuten und einordnen.

Wo die Lesefähigkeit zum Einsatz kommt

Wir Erwachsenen haben über die Jahre verschiedene Lesefähigkeiten erworben. Die erlernte Rezeption von Büchern, Zeitungen und Filmen fällt uns leicht. Nur bringt uns dies nicht weiter, wenn es um das Spiel »Minecraft« geht. Videospiele setzen eine vollkommen andere Lesefähigkeit voraus. Auch das Internet unterscheidet sich eklatant von unseren bisherigen Leseerfahrungen. Denn dem Netz begegnen wir mit einem neuen Gefühl: Misstrauen. Entspricht das wirklich alles der Wahrheit? Ist die Lektüre tatsächlich ein unabhängiger Testbericht oder handelt es sich doch um Werbung? Die nächsten Punkte zeigen eine Auswahl an Themen, die einer eigenen Lesefähigkeit bedürfen.


Free-to-play-Spiele

»Free to play« heißt kostenlos spielen. Kinder und Jugendliche bekommen Waffen, Diamanten und andere Items geschenkt, um das interne Bezahlsystem des Spiels zu verstehen. Sind diese Geschenke verspielt, können sie neue Gegenstände für kleines Geld nachkaufen. Laut Süddeutscher Zeitung haben die Macher von »Fortnite« einen Gewinn von mehr als drei Milliarden Dollar erzielt.

Gutscheinkarten

Eltern und Großeltern verschenken gerne iTunes- und Google-Play-Karten. Gutscheinkarten wurden erfunden, damit Menschen ohne eigene Kreditkarte im Internet einkaufen können – Kinder zum Beispiel.

Apps

Im Gegensatz zu Konsolenspielen und PC-Software kosten Apps deutlich weniger, und ihre Installation ist kein Hexenwerk. Apps sind aber auch sehr neugierig. Manche fertigen heimlich Screenshots vom Display an, andere durchforsten das Telefonbuch. Die Seite »www.app-geprüft.net« zeigt mit einem Ampelsystem, wie gravierend die Privatsphäre der Nutzer gestört wird.

Soziale Netzwerke

Soziale Netzwerke gab es schon immer: Familie, Freunde, Nachbarn, Vereine oder die Schulklasse. Sie alle haben gemeinsame Interessen und kommunizieren miteinander. Bei sozialen Netzwerken im Web ist das ähnlich, nur dass die Nutzer von Instagram oder Facebook auf einmal auch mit Leuten »befreundet« sind, die sie nicht persönlich kennen. Darin, dass diese Netzwerke die Eingaben ihrer Nutzer auslesen und verkaufen, unterscheiden sie sich am deutlichsten von realen Netzwerken.

Partizipation

Wer heute ein Buch schreibt oder Filme dreht, muss nicht mehr entdeckt werden. Er kann sein Werk selbst online stellen und mit Glück sogar eine gewisse Berühmtheit erreichen. Jeder kann mitmachen, auch Kinder. Darum sind Künstler wie Justin Bieber oder die Zwillinge Lina und Lena so beliebt. Sie sind Beispiele dafür, dass es jeder schaffen kann.

Fake News und Hate Speech

Falschnachrichten wollen Menschen mit Lügen und Hassbotschaften aufwiegeln. Nützliche Helfer sind dabei sogenannte Social Bots, also Roboterprogramme, die sich für Menschen ausgeben und automatisch Fake News verbreiten. Seiten wie »www.mimikama.at« und »www.helden-statt-trolle.de« klären darüber auf.

Chatbots

Auf vielen Internetseiten öffnen sich Chatboxen. Darin fragen Personen, ob sie uns helfen können – allerdings handelt es sich dabei um automatisierte Programme. Bislang fällt das Nutzern nur auf, weil diese Programme häufig sprachlich sehr holprig nachfragen. Heute arbeiten Agenturen bereits mit Dramaturgen zusammen, damit in Zukunft niemand mehr merkt, ob er mit einem Menschen oder einem Bot spricht.

Privatsphäre

Im Internet gibt es keine Privatsphäre. Die intimsten Dinge, die im Netz oder in Messenger wie WhatsApp ausgebreitet werden, lassen sich leicht ausspähen.

Big Data

Nichts ist im Netz geheim. Uns gänzlich unbekannte Firmen werten alles aus, was wir im Internet suchen, posten, kaufen und vieles mehr. Dass sich so personalisierte Werbung platzieren lässt, hat sich bereits herumgesprochen. Doch mit diesen Informationen lassen sich Menschen auch nahezu unbemerkt für politische Wahlen manipulieren. Das betrifft auch Schüler.

Sprachassistenten

Sprachassistenten wie Alexa haben einen unschlagbaren Vorteil: Sie sind die Überwindung der Tastatur. Die Spracherkennung funktioniert exzellent. Befürchtungen, dass diese Geräte auch im Off-Zustand zuhören, werden oft von den Herstellern heruntergespielt. Sie sollen nur zuhören, sobald das Schlüsselwort ausgesprochen wird. Aber müssen Sprachassistenten nicht die ganze Zeit zuhören, um überhaupt den Schlüsselbegriff zu hören?

Social Scoring

Der Name steht für die Bewertung von Bürgern. Wer seine Steuern pünktlich zahlt, ist ein guter Bürger und bekommt zum Beispiel schneller eine neue Wohnung. Wer bankrottgeht, darf keine Schnellzüge mehr benutzen oder Flüge buchen. Was wie ein dystopischer Roman klingt, ist in China längst real.


Diese kleine Übersicht zeigt, dass unsere Erziehungsaufgabe heute deutlich größer ist, als sich darüber Sorgen zu machen, wann das Kind sein Smartphone aus der Hand legt. Bleibt nur eine Frage:

Wer soll das vermitteln?

Die Medienerziehung ist natürlich zum wesentlichen Teil Eltern vorbehalten, aber auch die Schule hat ihren Anteil zu leisten. Dort wird häufig zum einfachsten Mittel gegriffen, dem Handyverbot. Das ist einerseits gut, weil die Schule vielleicht der letzte Ort ist, an dem Schüler mal »off« sind. Andererseits ist das nicht gut, denn beim Umgang mit dem Smartphone handelt es sich um eine Kulturtechnik, die erlernt werden muss. Verbote sind keine Hilfe. Darum dürfen an einigen Schulen Schüler das Mobiltelefon benutzen, um etwas nachzuschlagen oder zu dokumentieren. Jede andere Nutzung bleibt verboten. Wichtig wäre auch eine digitale und ethische Schulordnung, die partizipativ mit Schülern entwickelt wird. Themen wie Bilder, Rechte und Cybermobbing können viel zielgerichteter behandelt werden, wenn am Ende ein Ergebnis steht. Zudem wäre diese Schulordnung nicht im Sinne der zehn Gebote zu verstehen, die allein den Umgang im Schulalltag regelt, sondern als ein Baustein der Medienbildung. In diesem Zusammenhang wird immer wieder eine weitere, nützliche Bildungseinrichtung vergessen: die öffentliche Bibliothek. Dort gibt es für die Medienerziehung den Raum, die Technik (WLAN, Tablets, zum Teil auch Robotik) und ausgebildete Fachkräfte. Wenn wir Bibliotheken in der Medienerziehung stärker miteinbeziehen, entlastet das beide: Schule und Eltern.

Letzter Tipp: Der Mediennutzungsvertrag

Ähnlich der digitalen Schulordnung helfen auch zu Hause gemeinsam vereinbarte Regeln. Eine große Hilfe ist der Vertrag, den Eltern unter »www.mediennutzungsvertrag.de« finden. Damit können sie mit Kindern und Jugendlichen modulare Vereinbarungen zu unterschiedlichsten Medien treffen. Gemeinsam festgelegte Regeln werden eher eingehalten. Natürlich wird trotzdem immer wieder mal was schiefgehen. Weil es Kinder sind, weil sie Grenzen austesten – das ist völlig normal. Darum helfen auch die besten Regeln und Vereinbarungen alleine nicht weiter, sie müssen auch von uns Eltern kontrolliert werden. Zugegeben, das ist anstrengend, aber darum heißt es ja auch Erziehungsarbeit.


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Thomas Feibel

leitet als Medienexperte das Büro für Kindermedien in Berlin. Er arbeitet als Journalist und Jugendbuchautor, hält Lesungen und Vorträge, veranstaltet Workshops und Seminare.

www.feibel.de


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David Ling ist Lehrer auf dem deutsch-englischen Phorms Campus Frankfurt City und E-Safety-Beauftragter. Er informiert Mitarbeiter, Schüler, Eltern und Betreuer über die Herausforderungen der Online-Welt
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Autor: Thomas Feibel | Illustration: Friederike Schlenz