Growth Mindset: Scheitern ist der wichtigste Schritt zum Erfolg

Der eine gibt bei Schwierigkeiten sofort auf, der andere hat erst Spaß, wenn es was zu tüfteln gibt. Forscher fragen sich schon lange, ob Kindern diese Eigenschaften anerzogen oder angeboren sind. Und kommen zu erstaunlichen Ergebnissen
AUTOR: NICOLA SCHMIDT | ILLUSTRATION: STAR WORBS | 2016/2

 

Ein Mädchen im Grundschulalter sitzt im Labor der Moti­va­tions­forscherin Carol Dweck an der Stanford Universität und soll Puzzles lösen. Dweck forscht seit über 15 Jahren zur Frage, was lernstarke von lernschwachen Kindern unterscheidet und möchte herausfinden, was Kinder motiviert, auch bei schwierigen Aufgaben durchzuhalten.

Dem Mädchen gehen die ersten Aufgaben leicht von der Hand und die Studienassistentin lobt sie: „Das hast du gut gemacht, du musst wirklich klug sein!“ Jetzt bekommt das Mädchen ein deutlich schwereres Puzzle und hat dieses Mal große Mühe. Im dritten Schritt lässt ihr die Assistentin die Wahl: „Möchtest du noch einmal ein schweres oder leichtes Puz­zle machen?“ Das Mädchen entscheidet sich für das Puzzle, das deutlich einfacher ist.

Die Forscher sind verblüfft. Sie hatten er­wartet, dass ein Kind nach einer Reihe von Erfolgserlebnissen neue Herausforderungen eher freudig annimmt und sich freiwillig ein schwereres Puzzle auswählt. Doch das Gegenteil ist der Fall – 90 % der für ihr Talent gelobten Kinder entscheiden sich später für eine leichtere Aufgabe, um nicht zu scheitern. 

Egal, wie oft ein Kind Erfolg oder eine gute Note hatte: Viele schrecken schon nach einem einzigen Misserfolg vor anspruchsvolleren Aufgaben zurück. Nicht Erfolg macht stark gegen Schwierigkeiten, sondern das sogenannte „Arbeitsmodell“ im Kopf der Kinder. Glauben die Kinder, dass sie an Herausforderungen wachsen können, oder sehen sie Fehlschläge als Beweis dafür an, dass sie „einfach kein Talent“ haben?

Dabei reagieren Kinder auf sehr feine Nuancen in der Sprache der Erwachsenen. Als Carol Dweck eine zweite Gruppe Kinder anders loben ließ, bekam sie völlig andere Ergebnisse. Diesmal sagte die Assistentin: „Das hast du gut gemacht, du musst dir wirklich Mühe gegeben haben.“ Damit lobte sie die Anstrengung und weniger das Talent der Kinder, die sich dann deutlich öfter für das schwerere Puzzle entschieden. Dweck bezeichnet die unter­schied­lichen Arbeitsmodelle als „Fixed Mindset“, (statisches Selbstbild), und „Growth Mindset“ (dynamisches Selbstbild).

Menschen mit einem sogenannten „Fixed Mindset“ glauben, dass Mathe oder Deutsch nur kann, wer eben „Talent“ hat. Ihrer Ansicht nach sind Fähigkeiten angeboren und unveränderlich. Man kann Mathe – oder man kann es eben nicht. Menschen mit diesem „Fixed Mindset“ messen ihren Selbstwert daran, wie viele Talente sie haben und was ihnen leicht von der Hand geht. Dweck fasst zusammen: „Diese Menschen denken Dinge wie ‚besser keine Fehler machen, besser gut dastehen, was denken die anderen über mich?‘“ Fehlschläge verunsichern sie zutiefst, weil das Bild ihrer Persönlichkeit ins Wanken gerät: „Habe ich dieses Talent doch nicht?“ Da sie keine Strategie besitzen, an Herausforderungen zu wachsen, versuchen sie diese zu vermeiden.

Menschen mit einem „Growth Mindset“ hingegen gehen davon aus, dass sie sich immer weiterentwickeln und alles lernen können, wenn sie nur ausreichend viel Arbeit hineinstecken. Sie denken eher: „Hey, das ist eine tolle Gelegenheit, von diesem Fehler kann ich lernen. Ich fühle mich klug, wenn ich mich an etwas Schwierigem ausprobiere.“ Wenn etwas schief läuft, fragen sie sich, was sie nächstes Mal besser machen können. Menschen mit dieser inneren Überzeugung lieben Herausforderungen und sehen in Misserfolgen Schritte auf ihrem Weg zum Erfolg.

 

In guter Gesellschaft mit Edison und den Gebrüdern Wright

Die Geschichte scheint Dweck Recht zu geben: Wenn man genau hinschaut, haben sich viele große Erfinder, Denker und Wissenschaftler weniger durch ihre überragende Intelligenz als vielmehr durch dieses besondere Durchhaltevermögen hervorgetan. 

Der Erfinder der Glühbirne, Thomas Alva Edison, soll 1000 Modelle gebaut haben, bis er endlich eine funktionstüchtige Glühbirne erfunden hatte. Der Legende nach bewertete er diese Versuchsreihe im Nachhinein so: „Die Glühbirne war keine Er­findung mit 1000 Fehlversuchen, sondern eine Erfindung, für die es 1000 Schritte gebraucht hat.“

Auch wer heute in ein Flugzeug steigt, verdankt dies zwei Menschen, die bereit waren, aus jedem Fehlschlag zu lernen. Die Gebrüder Orville und Wilbur Wright stürzten jahrelang mit selbst gebauten Flugmaschinen ab. Erst 1902 gelang es ihnen, einen Gleiter zu bauen, der einen Menschen tragen konnte und sich steuern ließ – und gingen damit in die Geschichte ein.

 

Mathe – Talent oder eine Frage der Übung?

In der Schule lassen sich „Growth Mindset“-Interventionen geplant einsetzen. Für eine Studie hatten Carol Dweck und Lisa Blackwell besonders lernschwache Kinder der Mittelstufe per Zufall in zwei Gruppen eingeteilt. Eine Gruppe lernte gezielt, dass das Gehirn wie ein Muskel funktioniert. Die andere bekam nur generelle Lernstrategien vermittelt. Nach der Intervention berichteten die Lehrer, dass sich in der Experimentellen Gruppe 23 % der Kinder mehr anstrengten versus 7 % in der Kontrollgruppe.

An der Phorms Schule Frankfurt bringen Grundschulleiter Colin Mortensen und sein Pädagogen-Team das „Growth Mindset“-Konzept seit zwei Jahren Kindern ab der Eingangsstufe näher. Ursprünglich war die Idee von Mortensen ein „Spaßprojekt“, wie er selbst sagt. Mittlerweile hängen in jedem Klassen­zimmer kindgerecht aufbereitet Merksätze der „Growth Mindset“-Theorie.

An diesem Morgen erzählt Robert MacLeod, Leiter der vierten Stufe und Curriculum-Koordinator an der Phorms-Grundschule im Taunus, mit seiner Gitarre bei der Montagsversammlung den Kindern, wie er spielen gelernt hat. Er zeigt, wie schwer es ihm anfangs fiel, was er alles lernen und wie lange er durchhalten musste, bis er Gitarre spielen konnte. Hier setzt die Lektion über „Growth Mindset“ an. Die Kinder sollen sich austauschen: Was sagt jemand zu sich selbst, der Gitarre lernen will und ein dynamisches Selbstbild („Growth Mindset“) hat? Was sagt jemand, der ein statisches Selbstbild („Fixed Mindset“) hat? Die Ergebnisse der Kinder sind sehr nah an dem, was auch Carol Dweck nennt: „Ich kann das schaffen, ich muss nur üben“ im Gegensatz zu „Dieses Lied lerne ich niemals so zu spielen wie ein richtiger Gitarrist.“ 

Die Ergebnisse der kontinuierlichen Intervention seien „erstaunlich“, so Mortensen. Die Leistungen der Kinder in Lesen, Schreiben und Mathe sind messbar besser, aber was Mortensen noch viel wichtiger ist: Es gibt auch weniger Verhaltensvorfälle. Die Schüler lernen an dieser Phorms-Schule neben dem „Growth Mindset“ eine ganzheitliche Herangehensweise an das Lernen. Sie werden aufgefordert, wahrzunehmen, wie es ihnen geht, sollen herausfinden, welche Charaktereigenschaften ihnen helfen und woran sie noch arbeiten müssen. „Wie man an Herausforderungen wächst, das wird in der Schule häufig nicht gelehrt“, klagt Mortensen. Und genau daran scheitern viele Schüler, auch sehr begabte.

Besonders deutlich wird das beim Übergang zwischen den Schul­formen. Auch wenn in der Grundschule alles glatt lief, straucheln viele Kinder auf dem Gymnasium. Und so kann es weiter gehen: „Wenn sie sich an der Universität umschauen, sehen sie häufig, dass Studierende zum ersten Mal scheitern“, sagt Jürg Frick, Professor und Experte für Resilienz und Psychologie der Ermutigung an der Hochschule Zürich. Er warnt: Einige dieser Studenten manövrieren sich bis in eine Depression.

 

Schulen müssen die richtige Einstellung vermitteln

Im Jahre 2003 versuchten auch Forscher im Auftrag der OECD herauszufinden, was lernstarke von lernschwachen Schülern unterscheidet. Sie fragten bei 15-jährigen Schülern in 26 OECD-Ländern nach und stellten fest: „Nahezu ein Fünftel aller Unter­schiede bei den Leseleistungen der Schüler lässt sich auf die Effektivität der Lernvoraussetzungen im Sinne von Lernstrategien, Motivation und leistungsbezogenem Selbstvertrauen zurückführen.“  Und dieses Selbstvertrauen lernen Kinder als erstes von ihren Eltern.

 

Loben ja – aber bitte richtig

In einer Umfrage glaubten 80 % aller Eltern, dass sie die Fähigkeiten ihrer Kinder loben müssen, um sie motiviert zu halten.  „Gut gemacht“ oder „Du kleines Mathegenie!“ sind an der Tagesordnung. In Studien zeigt sich aber: Lob alleine kann Kinder nicht motivieren. Im Gegenteil: Falsches Lob demotiviert Kinder unter Umständen sogar – und vermittelt das falsche Selbstbild. 

Die wichtigste Grundregel lautet: Immer aufrichtig loben. Alles was zu allgemein, übertrieben oder offensichtlich mani­pulativ ist, ist für die Motivation der Kinder nicht nur nutzlos, sondern schädlich. Dies fanden die Psychologen Jennifer Henderlong und Mark Lepper vom Reed College in Oregon heraus, nachdem sie über 100 Studien zum Thema ausgewertet hatten. Wenn Kinder für eine leichte Aufgabe übermäßig gelobt werden, haben sie das Gefühl, man hält sie für dumm und müsse sie besonders fördern.

Doch es wird noch komplexer: Besonders Mädchen sind anfällig für falsches Lob. In Studien fühlen sie sich von einem Satz wie „Na, du bist aber besonders gut beim Puzzle!“ so unter Druck gesetzt, dass sie Versagensängste entwickeln. Jungs hingegen zeigten auch nach einem Lob für ihr Talent keinerlei Motivationseinbrüche. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam die OECD-Studie bei den 15-Jährigen: Mädchen können zwar häufig besser lesen, aber die Jungs sind trotzdem überzeugter, auch schwierige Aufgaben meistern zu können.

 

Schon Kleinkinder übernehmen das „Mindset“ der Eltern

Welches Arbeitsmodell Kinder entwickeln, entscheidet sich oft schon sehr früh.

 Eine Studie von Elizabeth Gunderson und Kollegen an den Universitäten von Chicago und Stanford kam zu dem Ergebnis, dass die Art von Lob, die Kinder im ersten bis dritten Lebensjahr erhalten, noch fünf Jahre später ihr Arbeitsmodell für Motivation entscheidend beeinflusste.

Doch zum entspannten Umgang mit Misserfolgen gehört auch innerhalb der Familie das, was Wissen­schaftler „Fehlertoleranz“ nennen. Anne Frey forscht an der Ludwig-Maximilians-Universität Mün­chen am Lehrstuhl für Grundschulpädagogik und Didaktik unter anderem über soziales Lernen. Sie sagt: „Es ist wichtig, vorzuleben, wie man mit Fehlern umgeht.“ Eltern sollten aus Misserfolgen kein Drama machen, sondern gemeinsam überlegen, was das nächste Mal anders laufen könnte.

 

Das Verhalten bewerten, nicht die Persönlichkeit  

Kinder- und Jugendcoaches sehen die Idee des „Growth Mindset“ auch kritisch. Sie bevorzugen – wie Phorms-Grundschulleiter Colin Mortensen – eine ganzheitliche Sichtweise: „Man muss immer erst einmal schauen, wie es dem Kind geht“, sagt Ludger Brenner vom IPE für Kinder und Jugendcoaching. „Denn mit Wut und Ärger im Bauch kann niemand lernen.“ Es gilt also erst einmal herauszufinden, ob es ein Problem mit der Fachlehrerin gibt, ob das Kind strukturell über- oder unterfordert ist. Oder sind im Freundeskreis oder der Familie Irritationen da, die dem Kind gerade auf der Seele liegen? 

Brenner empfiehlt: „Es ist wichtig, das Kind als Ganzes zu sehen.“ Daher  sollten Eltern immer das Verhalten und nicht die Persönlichkeit der Kinder bewerten, also eher sagen: „Der Mathetest war wohl ganz schön schwierig, oder? Lass uns doch mal sehen, was genau wir da machen können, so dass es dir beim nächsten Mal etwas leichter fällt“ statt „Du bist einfach zu faul“. So weiß das Kind, was es ändern kann, bleibt aber in seinem Selbstwert intakt.

 


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Wie können Lehrer Schüler darin unterstützen, Herausforderungen anzunehmen, anstatt sich von ihnen überfordert zu fühlen? Carol Dweck ist bekannt für ihre wegweisende Forschung auf dem Gebiet der Motivations-, Persönlichkeits- und Entwicklungspsychologie. In diesem Interview fasst sie einige ihrer Überlegungen zur Bedeutung der Motivation beim Lernen zusammen
2016/2
AUTOR: GARY HOPKINS, ERSCHIENEN IN EDUCATION WORLD | FOTO: SILKE WEINSHEIMER