„Nur Verbote können nicht beschützen“

Katja Reim begleitet ihre achtjährige Tochter auf dem holprigen Weg durch die digitale Welt. So lernen die beiden viele Dinge gemeinsam. Auf ihrem Blog meincomputerkind schreibt sie darüber lustige und spannende Erfahrungsberichte
AUTOR: KATJA REIM | FOTO: SILKE WEINSHEIMER | 2015/2

 

Wir leben in einem gesellschaftlichen Umbruch. Die Digitalisierung verändert die Welt und ihre Kinderstuben. „Wir bereiten Kinder auf Berufe vor, die es noch gar nicht gibt, Technologien nutzend, die noch nicht erfunden sind; um Probleme zu lösen, die wir heute noch nicht kennen“, so der US-Pädagoge Karl Fisch.

Die digitale Transformation wird eine zentrale Rolle spielen – auch im Leben meiner heute achtjährigen Tochter. Deshalb will ich sie so gut es geht darauf vorbereiten. Ihr die gefährlichen Klippen zeigen, aber auch die unendlichen Möglichkeiten. Und ich will ihr Werte aus der analogen in die digitale Welt mit auf den Weg geben. Ihre Medienerziehung ist ein spannendes Experiment mit offenem Ausgang und mein Blog Meincomputerkind das Tagebuch dazu.

Als Journalistin weiß ich, welche Kraft die dunklen Seiten des World Wide Web entwickeln können. Aber auch, dass man Kinder mit Verboten nicht beschützen kann. Ich möchte Eltern Mut machen, dass sie ihrem Bauchgefühl folgen und sich nicht digital von ihrem Kind entfremden lassen. Da werkeln heute schon Zehnjährige stundenlang in der Minecraft-Welt, ohne dass ihnen ein Erziehungsberechtigter das Werkzeug reichen könnte. Da leiden Zwölfjährige an Liebeskummer, obwohl sich nie die Lippen berührt haben – nur die Instagram-Profile. Auch sie brauchen ihre Eltern als Hafen und ethische Werte als Anker.

Deshalb sollte man, so meine Erfahrung, schon im Kindergartenalter mit der Medienerziehung beginnen. Nicht indem man den Nachwuchs allein am Smartphone wischen lässt, sondern indem man ihm die digitale Welt erklärt – so wie den Straßenverkehr.

Wir begannen damit, als unsere Tochter vier Jahre alt war. Eine der ersten Lektionen: Fotos können lügen. Mit dem Fotobearbeitungsprogramm verwandelte sie sich selbst in eine langnasige Hexe. Sie hatte Spaß dabei und begann danach, die Werbeplakate an der Bushaltestelle zu hinterfragen.

Zur Schuleinführung schenkten wir Maria ein Kindertablet, um mit ihr gemeinsam die ersten Schritte im Internet zu gehen und ihr die wichtigsten digitalen Verhaltensregeln zu zeigen, bevor sie mit dem World Wide Web in der Hand durch ihre Pubertät surft.

Denn am Anfang sind Eltern – trotz Halbwissen – digitale Autoritäten. Das zeigen auch Umfragen vom Institut für Vertrauen und Sicherheit im Internet. Auf die Frage „Worauf vertraust du, wenn du nicht sicher bist, ob bestimmte Internetangebote sicher sind“ antworteten bei den 9- bis 13-Jährigen 69 Prozent mit „Rat des Vaters“ und 67 Prozent mit „Rat der Mutter“. Schon in der nächsten Entwicklungsstufe (14- bis 17-Jährige) verlassen sich nur noch 39 Prozent auf Papa und 35 Prozent auf Mama. Und bei den über 18-Jährigen dürfen sich Mutti und Vati glücklich schätzen, wenn sie überhaupt noch etwas gefragt werden.

Denen, die glauben, ich wolle meine Tochter mit Bits anfixen und würde ihr so die Kindheit rauben, erzähle ich die Geschichte von unserem Süßigkeitenteller. Der steht offen in Kinderhandhöhe im Wohnzimmer, seit Maria klein ist. Sie hat gelernt, dass sie fragen muss, wenn sie sich etwas nehmen möchte. Das klappte nicht von Anfang an reibungslos – Gummibären und ein Schoko-Weihnachtsmann verschwanden unter mysteriösen Umständen – aber inzwischen ist Fragen für Maria das Normalste der Welt. Ich glaube, mit digitalen Verlockungen ist es ähnlich.

Und Verlockungen gibt es schon in Kinder-Apps. Man kann neue Figuren kaufen oder sich bei Memory- und Malspielen kostenpflichtige Erweiterungen holen, die fröhlich aufblinkend locken. Die Frage „Mama, kaufst du mir das?“ ist die logische Folge. In der realen Einkaufswelt können wir mit „Du hast doch Taschengeld“ kontern und sie dazu bringen, zu überlegen, ob ihr die Sache das wert ist. Deshalb haben wir auch in der digitalen Welt eine Art Taschengeld eingeführt. Eine „Google Play“-Karte, die Maria zum Geburtstag bekam – mit 15 gelben Punktaufklebern, die in Form eines Smileys auf die Karte geklebt wurden. Jeder Punkt steht für einen Euro. So kann sie sehen, wie ihr Geld im Internet weniger wird.

Das Beste an Marias Medienerziehung aber ist, dass wir gemeinsam lernen: am Werkzeug Computer. Professor Gerald Hüther, Neurobiologe und Autor des Buches „Wie Kinder heute wachsen“, meint, Kinder sollten digitale Medien zuerst nicht als Unterhaltungsmedium kennenlernen, sondern als Werkzeuge, mit dessen Hilfe man etwas gestalten oder erzeugen kann.

Wir bastelten zum Beispiel einen Minitrickfilm mit streitenden Steinpiraten. Maria machte die Fotos der einzelnen Bewegungen und als sie schlief, suchte ich mir auf dem Videoportal YouTube tatkräftige Unterstützung. Mit dem Stichwort Tutorial fand ich tolle Erklärvideos. Am Computerbildschirm wurde Schritt für Schritt erzählt, was zu tun, zu drücken, zu klicken und zu öffnen ist. Auch wenn viele der digitalen Experten noch nicht mal im Stimmbruch waren, fühlte ich mich geborgen. Ohne Maria wäre ich wohl nicht auf die Idee gekommen, bei jugendlichen Tutoren Rat zu suchen, was ich inzwischen regelmäßig mache.

So früh wie möglich wollte ich Maria auch für das Thema kompromittierende Bilder sensibilisieren. In der analogen Welt ließe sich so ein Foto einfach zerreißen. In der digitalen sieht das anders aus. Um Maria das vor Augen zu führen, schickten wir ein Foto ihrer Puppe Anna auf meinem Blog www.computerkind.de und bei Facebook auf digitale Reise, mit der Bitte, es zu teilen und leicht verändert an uns zurückzuschicken. Die Aktion war ein unglaublicher Erfolg.

Aus einem einzigen Foto wurde ein poetischer Ausflug in die Weiten der digitalen Möglichkeiten. Oft hatte Anna sich verdoppelt oder neue Kleider an, hielt einen Affen, Hunde, Blumen und sogar eine Cola in der Hand. „Und das kann man auch mit Fotos von mir machen?“, wollte Maria oft wissen. „Ja mein Schatz.“ Ab und an begleitete Anna auch ein Gruß an die Puppenmutti, in dem stand, wo Anna gerade Station machte. Dann zeigte ich Maria die Stadt auf der Karte. „So weit geht das Internet“, meinte sie manchmal ungläubig. Ja, so weit. Und noch viel weiter!

Mit Marias Großmutter, die 3.000 Kilometer weit weg in Mexiko lebt, skypen wir regelmäßig und erlebten sogar den diesjährigen Jahreswechsel via Tablet zusammen. Die Folge wird sein, dass Entfernungen für mein Kind von klein an eine andere Dimension haben, als sie sie für mich hatten. So ändert sich die Welt durch Digitalisierung. Was es mit jedem Einzelnen macht, werden wir erst noch erfahren, doch manches können wir voraussehen.

Deshalb sagen wir: „Sei umsichtig mit deinen Daten!“ Und damit sie das lernt, hat sie jetzt schon ein eigenes Postfach – unter einem Fantasienamen. Wir haben ihr lange erklärt, warum wir nicht ihren Namen und ihre Adresse eingeben. Um zu kontrollieren, ob sie es wirklich verstanden hat, habe ich ihr eine selbst verfasste Spam-Mail geschickt. „Glückwunsch, du hast einen Teddy gewonnen. Du musst uns nur noch deine Daten schicken.“ Sie hat nicht geantwortet, sondern mir die Mail gezeigt.

Ob das alles mein Kind vor Fehltritten in der digitalen Welt bewahrt? Ganz sicher nicht! Fehler gehören zum Wachsen. Ich hoffe, dass wir Maria gutes Rüstzeug und Selbstvertrauen mit auf den Weg geben. Und dass wir Vertraute bleiben – auch in ihrer digitalen Pubertät.

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Katja Reim ist Leiterin des Ressorts Nachrichten bei der Tageszeitung Berliner Kurier. In ihrer Freizeit bloggt die 41-Jährige unter www.meincomputerkind.de über die Medienerziehung ihrer achtjährigen Tochter. 


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AUTOR: JOANNA SCHMÖLZ | FOTO: SILKE WEINSHEIMER