Wie lernen Kinder, sich selbst zu regulieren?

Die Heidelberger Entwicklungs- und Biopsychologin Prof. Sabina Pauen erforscht, wie Kinder sich selbst regulieren und ihre Eltern ihnen dabei helfen können
Interview: Jasmin Priesnitz | Illustration: Friederike Schlenz | Foto: Heidelberg University | 2019/2

Wie stehen Sie zu Süßigkeiten? Sollte man Kindern Süßigkeiten verbieten?

Verbote sind grundsätzlich heikel, auch wenn wir nicht ganz ohne sie auskommen. Einerseits helfen sie dabei, die Menge an Süßigkeiten zu regulieren, die ein Kind zu sich nimmt, solange man mit im Raum ist. Anderseits helfen sie dem Kind nicht, seinen Wunsch zu hinterfragen. Vielmehr denkt es darüber nach, was es am Naschen hindert und wie es doch an die Süßigkeiten kommen könnte. Sobald es dann ohne Aufsicht ist oder ihm eine dritte Partei Süßigkeiten anbietet, wird es umso lieber zugreifen. Das ist die Krux mit Verboten. Wir sollten daher nach anderen Möglichkeiten suchen, dem Kind einen vernünftigen Umgang mit Zucker zu vermitteln.

Das Wichtigste ist vermutlich, Süßigkeiten nicht zu früh anzubieten. Ebenso sollten Eltern darauf achten, dass nicht zu viele Lebensmittel konsumiert werden, die versteckte Zucker enthalten, wie etwa Säfte. Denn wenn dem jungen Körper von Anfang an viel Zucker angeboten wird, lernt er, dass dies der einfachste und schnellste Weg ist, Kalorien zu sich zu nehmen. Alle anderen Nahrungsmittel müssen erst aufgespalten werden. Das ist für den Körper aufwendiger, aber trotzdem besser.

Von welchem Alter sprechen Sie hier?

Ich meine die Säuglings- und Kleinkindzeit. Im Kindergartenalter wird es schwerer, die Zuckerzufuhr extern zu kontrollieren, denn das Kind isst nicht mehr nur zuhause. Aber auch dann bleibt es sinnvoll, daheim eher wenig davon anzubieten.

Sie haben das Thema der Selbstregulation bereits angesprochen. Was kann man darunter verstehen? Und wie funktioniert sie? 

Selbstregulation meint allgemein, das eigene Verhalten, Denken und Fühlen selbst zu steuern. Dazu gehört schon, das eigene Verlangen nach Süßigkeiten zu registrieren. Aber dann muss man lernen, eine bewusste Entscheidung zu treffen, wie man mit dieser Lust umgeht. Ein Beispiel: Wenn ich vor einem Teller Kekse sitze und merke, dass ich an nichts anderes als an diese Kekse denken kann, dann schiebe ich sie vielleicht am besten beiseite. Ebenso kann ich versuchen, meine Gedanken beiseite zu schieben. Das sind Strategien, die Kinder jedoch erst lernen müssen. Differenzierte Selbstreflexion ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, die ein Kindergartenkind in der Regel noch nicht lösen kann. Aber wir können ihm helfen, sich in diese Richtung zu entwickeln.

Wie können Eltern das Kind unterstützen? Gibt es Strategien oder Rituale, die dabei helfen? Und in welchem Alter sollten Eltern am besten damit anfangen?

Wir haben in der Forschung herausgefunden, dass sich die unmittelbare Impulskontrolle etwa im zweiten Lebensjahr entwickelt. Da die Kinder dann wichtige Reifungsschritte durchlaufen, sollten wir sie als Eltern unbedingt von Anfang an unterstützen. Der für die Impulssteuerung verantwortliche Orbitofrontalkortex reift ganz wesentlich bis zum vierten Lebensjahr heran. Aber schon vorher hören die Kinder auf das, was wir sagen. Wir müssen darauf achten, dass unsere Ansagen sehr klar sind, weil sich die Kinder noch keine langen Sätze merken oder verarbeiten können. Eltern sollten sich bewusst sein, dass es Entwicklungschancen für das Kind sind, wenn man auch mal »Stopp« sagt. Es ist natürlich wichtig, wie Eltern es sagen: nämlich in einem freundlichen, aber bestimmten Ton. Wer einmal »Stopp« sagt, sollte unbedingt darauf achten, dass das Kind sich auch daran hält. Denn das Kind lernt nur, wenn es realisiert: »Fordern mich die Eltern zu etwas auf, meinen sie es auch ernst.« Inkonsequenz hingegen führt zum Gegenteil. Im Prinzip ist es simpel, in der Umsetzung aber oft schwierig.

Wie wichtig ist es, seinem Kind ein gutes Vorbild zu sein?

Wenn ich als Elternteil viele Fruchtsäfte oder Limonade trinke, kann ich meinem Kind nicht nur Mineralwasser anbieten. Das passt einfach nicht. Ich kann niemals erwarten, dass mein Kind sich vernünftig ernährt, wenn ich nicht auch auf meine Ernährung achte und begründe, was ich tue. Ich als Elternteil fülle den Kühlschrank und die Schublade mit den Süßigkeiten, nicht das Kind. Ebenso werde ich auch in Bezug auf mein Essverhalten sehr genau von meinem Kind beobachtet.

Eltern dürfen ruhig darüber sprechen, dass es manchmal schwer ist zu widerstehen. Es ist gut, wenn ein Kind hört: »Ich hätte auch Lust, mir noch ein Stück Schokolade zu nehmen, aber ich weiß, dass es besser ist, wenn wir das jetzt nicht tun.« So lernt das Kind, dass dies keine einfache Situation ist, erhält aber gleichzeitig Tipps, wie es damit am besten umgehen kann. Zum Beispiel indem die Eltern sagen: »Komm, wir legen die Kekse erst mal zur Seite!« oder »Wir räumen jetzt zuerst die Küche auf und dann nehmen wir uns ein kleines Stück.« Dieselben Strategien, die mir als Mutter oder Vater helfen, den Konsum zu regulieren, können auch meinem Kind helfen. Deshalb ist es richtig, die Gedanken vor dem Kind auszusprechen. Wenn das Kind lernt, die Regulierung von Bedürfnissen als gemeinsame Aufgabe zu betrachten, lässt es sich eher von der Gemeinschaft bei der Regulierung dieser Bedürfnisse helfen.

Kinder lernen also diese Strategien von den Eltern, verinnerlichen sie und können sie im Optimalfall beispielsweise auch im Kindergarten anwenden?

Ja, das ist sehr interessant! Kinder, die sich gut selbst regulieren können, sind oft auch in der Lage, anderen Kindern selbstregulative Strategien beizubringen. Es ist also ein System, das sich positiv fortsetzt, wenn man einen guten Anfangspunkt hat. Aber die Kleinen sind nicht alle gleich. Einige Kinder haben sehr starke Impulse, andere hingegen sind eher zurückhaltend. Die, die sehr impulsiv in ihrem Handeln sind, haben es natürlich schwerer mit der Selbstregulation. Umso wichtiger ist es, als Bezugsperson geduldig zu bleiben und vor Rückschlägen nicht sofort zurückzuschrecken.

Welche Rolle spielt dabei die Wahrnehmung der Körperbalance?

Wenn in einer Familie über innere Zustände gesprochen wird, indem man zum Beispiel fragt: »Bist du schon satt oder nicht?«, fördert das die Achtsamkeit sich selbst gegenüber. Denn das Kind lernt, Worte für innere Zustände zu finden. Das Reden führt dazu, dass das Kind beginnt, darüber nachzudenken, was in ihm vorgeht. Je besser das funktioniert, desto weniger braucht es Süßigkeiten als Ersatzbefriedigung.

Kann die Selbstregulationsfähigkeit auch für andere Bereiche des Alltags funktionieren, etwa beim Medienkonsum oder den Emotionen?

Ja, auf jeden Fall. Man kann Achtsamkeit und Selbstregulation eigentlich in unterschiedlichsten Alltagssituationen üben. Es ist wichtig, das Kind dabei zu unterstützen, sich selbst zu steuern, indem man sich ihm geduldig und mit dem Herzen zuwendet, seine Gefühle und Bedürfnisse benennt und darüber spricht, aber auch mit Klarheit und Konsequenz die Dinge durchsetzt, die man für richtig hält. Eben auch in Bezug auf den Umgang mit Süßigkeiten!


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»Ich kann niemals erwarten, dass mein Kind sich vernünftig ernährt, wenn ich nicht auch auf meine Ernährung achte und begründe, was ich tue. Auch in Bezug auf mein Essverhalten werde ich sehr genau von meinem Kind beobachtet.«

Prof. Sabina Pauen


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Autorin: Anna Fuchs | Illustration: Friederike Schlenz | Foto: privat