»Familienmahlzeiten fördern die gesunde Ernährung von Kindern«

Dr. Mattea Dallacker beschäftigt sich mit den sozialen Einflüssen von Familienmahlzeiten auf das Essverhalten von Kindern
Interview: Anna Luszczakiewicz | Illustration: Friederike Schlenz | Foto: Lena Haas | 2019/2

Zu welchen Ergebnissen sind Sie bei den beiden Analysen gekommen?

Mattea Dallacker: 2018 haben wir zunächst den rein quantitativen Aspekt der Familienmahlzeit untersucht. Dabei haben wir 57 internationale Studien mit 200.000 Probanden ausgewertet, um herauszufinden, wie sehr Eltern bzw. die Familie das Essverhalten und somit auch das Körpergewicht von Kindern beeinflussen können. Indikatoren hierfür waren in allen herangezogenen Studien der Body Mass Index (BMI) sowie die täglichen Portionen an Obst und Gemüse bzw. Fast Food und Softdrinks, jeweils als Hinweise auf gesunde und ungesunde Ernährung. Es hat sich gezeigt, dass Kinder, die häufig mit ihren Familien essen, eine gesündere Ernährungsweise und im Durchschnitt ein geringeres Übergewichtsrisiko haben. Dieser Befund war international relativ konstant. Eltern fungieren als Gatekeeper der Ernährung. Sie haben die Möglichkeit, am Esstisch eine ergiebige Lernumgebung zu schaffen, in der sie selbst gesunde Essensmuster vorleben.

Kommt es also darauf an, wie oft Familien gemeinsam essen?

Darauf weisen die Ergebnisse unserer ersten Analyse hin, ja. Welche psychologischen und sozialen Aspekte hier konkret greifen war jedoch unklar. Wir haben uns deshalb stärker mit der Fragestellung beschäftigt, was genau die Familienmahlzeit eigentlich so gesund macht. Diese Frage haben wir im Rahmen der zweiten Meta-Analyse mit 50 Studien und 29.000 Probanden im Jahr 2019 untersucht. Dabei konnten wir sechs Komponenten identifizieren, die mit einer besseren Ernährungsgesundheit in Kindheit und Jugend korrelieren. Es hat sich gezeigt, dass die Qualität der gemeinsamen Mahlzeiten wichtiger ist als deren Quantität.

Welche Komponenten sind das, und wie können diese im Alltag umgesetzt werden?

Die Qualität der Lebensmittel spielt natürlich eine wichtige Rolle: Frisches und selbstzubereitetes Essen ist grundsätzlich positiv zu bewerten. Außerdem sind die Dauer der Mahlzeit und die Atmosphäre beim Essen relevant. Das Essen sollte stressfrei und ohne Konflikte verlaufen, denn im besten Fall genießen alle Beteiligten die gemeinsame Zeit bewusst. Ebenso wichtig ist die aktive Vorbildfunktion der Eltern: Sie sollten mit gutem Beispiel vorangehen und das Gleiche essen wie ihre Kinder. So trivial es klingen mag: Ein zusätzlicher Faktor ist das Ausschalten des Fernsehers. Und schließlich haben wir auch feststellen können, wie wichtig es ist, die Kinder bereits in die Vorbereitung der Mahlzeiten einzubeziehen. Das Helfen bei Planung, Einkauf und Zubereitung kann sich also positiv auf die Ernährung auswirken. Einen Erklärungsansatz liefert der sogenannte IKEA-Effekt: Die psychologische Forschung zeigt, dass Menschen einen Gegenstand positiver bewerten, wenn sie bei seiner Herstellung eingebunden waren. Das Gleiche kann im übertragenen Sinne auch für Kinder gelten, die bei der Zubereitung von Obst und Gemüse helfen: Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sie es im Anschluss gern beziehungsweise lieber essen.
 


Wenn Eltern in Vollzeit arbeiten und bei den Kindern vermehrt außerschulische Aktivitäten auf dem Plan stehen, begegnet sich die Familie oft nur noch en passant. Wie zeitgemäß ist die Idee der Familienmahlzeit heute noch und wie realistisch ist ihre Umsetzung?

Tatsächlich ist die Häufigkeit der Familienmahlzeiten in Deutschland in den letzten zehn Jahren gestiegen. Dies ergab die im Jahr 2019 veröffentlichte EsKiMo-II-Studie des Robert-Koch-Instituts. Besorgniserregend ist jedoch, dass sich dieser Trend nicht bei Familien mit einem geringen sozioökonomischen Status zeigt. In der 2016 erschienenen AOK-Familienstudie gaben Familien übrigens an, während der Familienmahlzeit die schönste Zeit miteinander zu haben.

In unserer modernen Gesellschaft gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie Familien zusammen essen können. Frühstück, Mittag- oder Abendessen: Jede Form der gemeinsamen Mahlzeit hat einen positiven Effekt. Im Rahmen unserer Analyse sind wir auch darauf gestoßen, dass nicht immer die komplette Familie am Tisch sitzen muss. Dieser Anspruch ist heutzutage einfach unrealistisch. Wenn der Vater morgens mit einem der Kinder frühstücken kann, ist das schon gut. Es muss nicht immer ein Festessen sein, sondern einfach eine Mahlzeit, die man flexibel in den Alltag integrieren kann.

Wie kann so eine Mahlzeit aussehen? Haben Sie Tipps für die Praxis?

Der Anspruch sollte nicht sein: »Wir müssen wirklich jeden Abend gemeinsam essen!«, sondern vielmehr: »Wann und wie schaffen wir es, zu einem gemeinsamen Essen zusammenzukommen?« Die Gerichte müssen nicht aufwendig, sondern können schnell und praktisch sein. Wenn nämlich schon im Vorfeld die Zubereitung der Mahlzeit zum Stressfaktor gerät, kann meist auch keine positive Atmosphäre entstehen. Es hilft dann auch, diese positive Stimmung zu erhalten, indem Streitgespräche und kritische Themen am Familientisch vermieden werden.
Die von uns identifizierten sechs Komponenten für eine gesunde Familienmahlzeit bilden kein Regelwerk, sondern können als Leitfaden dienen. Ihre Umsetzung unterliegt individuellen Rahmenbedingungen. Es ist wichtig herauszufinden, was für die eigene Familie wirklich praktikabel ist.

Zeigen sich die positiven Effekte neben der Ernährungsgesundheit auch in anderen Bereichen?

Einige Forschungen weisen darauf hin, dass gemeinsame Mahlzeiten in Zusammenhang mit besseren Schulleistungen sowie mit einem geringeren Risiko von Depressionen und Essstörungen stehen. Das Ritual des Zusammensetzens und gemeinsamen Essens stärkt die einzelnen Familienmitglieder, den Familienzusammenhalt und die Familiengesundheit, denn es bietet Raum für Austausch und Interaktion.

Deutschlandweit werden immer mehr Kinder ganztägig beschult. Auch wir bei Phorms betreuen die Kinder ganztags. Welche Rolle fällt im Zusammenhang mit der Ernährung den Lehrkräften zu?

Experimentelle Studien belegen, dass auch Lehrkräfte in Ernährungsfragen zum Vorbild werden können. Wenn sie bei einer gemeinsamen Mahlzeit Obst und Gemüse verzehren und zeigen, dass sie es mögen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass auch die Kinder es gern essen. Es gibt also Hinweise darauf, dass die positiven Effekte der Familienmahlzeit auch im Schulalltag auftreten können, wenn Lehrkräfte einen Beitrag dazu leisten. Das ist ein sehr interessanter Aspekt, bedenkt man, wie viel Zeit Kinder heutzutage in der Schule verbringen und wie viele Mahlzeiten sie in der Obhut ihrer Lehrerinnen und Lehrer einnehmen. 
 


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Dr Mattea Dallacker 

ist Psychologin und Postdoc am Forschungsbereich Adaptive Rationalität des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin. Dort forscht sie zu der Frage, wie man Entscheidungen im Bereich Gesundheit verbessern kann.


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