Die gemeinsame Mahlzeit – eine bedrohte Spezies

Die gemeinsame Mahlzeit hat schon immer sozialen Zusammenhalt und Hierarchien gefestigt. Diese Kulturgeschichte des Essens erklärt, was wir warum essen und was wir damit verbinden
Autoren: Gunther Hirschfelder, Sarah Thanner | Illustration: Friederike Schlenz | Fotos: privat | 2019/2

Die Welt ist mindestens so unübersichtlich wie ein durchschnittlicher Supermarkt, in dem ungefähr 12.000 Lebensmittel zum Verkauf stehen. Kein Wunder, dass niemand mehr durchblickt: Was ist gesund? Was macht krank? Was bietet den besten Genuss? Oder sollte Ernährung doch besser nachhaltig sein? Dabei vergessen wir leicht, dass zwar die Nahrung stofflich, das Essen aber vor allem ein kultureller Akt ist. Wir haben in der Kindheit durch die Familie und unser soziales Umfeld gelernt, was, wie und mit wem wir essen. Dieses Grundmuster ändert sich individuell nur wenig. Allerdings müssen wir es auch in Einklang mit unserem Alltag in der hochmobilen, globalen und digitalen Welt bringen.

Ist die gute alte Familienmahlzeit auf dem Weg in die Moderne auf der Strecke geblieben? Spielen Kantinen und Mensen, Schnellrestaurants und Discountangebote, Snacks und »to go« inzwischen nicht eine viel größere Rolle? Welche Rolle spielt die Mahlzeit in unserer Gesellschaft überhaupt noch? Schwer zu sagen, denn unsere Vorstellungen vom Essen unterscheiden sich fundamental von der Realität. Sie speisen sich aus historischen Traditionen, medialen Darstellungen und nicht zuletzt aus individuellen biografischen Erinnerungen. Heute scheint die Familienmahlzeit eher eine Sondersituation als Normalität zu sein. Dennoch lebt das Bild als Ideal in unseren Köpfen fort.

Die soziale Realität unserer alltäglichen Ess- und Trinkgewohnheiten ist plural und vielschichtig. Unsere frühere Leitperspektive, das Industriezeitalter, hat sich aufgelöst. Während die Herkunft aus einer Schicht oder Klasse die Gesellschaft der alten Bundesrepublik prägte, sind wir inzwischen zu einer Lebensstilgesellschaft übergegangen, in der uns Szenen und Milieus genauso prägen wie unsere Herkunft. Das schlägt sich auch in der Nahrungskultur nieder.

Auch die Arbeitswelt hat sich verändert. Seit den späten 1990er Jahren verlangt sie eine immer größere Flexibilität, die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen. Dies wirkt sich auch auf die traditionelle Familienmahlzeit aus.

Doch bei genauerer Betrachtung hat die Mahlzeit ihren sozialen Wert nicht verloren. Sie hat nur ihre Funktion eingebüßt, Menschen gesellschaftlich zu regulieren und zu disziplinieren. Um diese Entwicklung zu verstehen, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit.


Von der Steinzeit bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts

Mit der Entdeckung des Feuers vor etwa 300.000 Jahren bekam die Mahlzeit erstmals einen festen Ort. Die gemeinsame Feuerstelle organisierte schon bald das ganze Sozialleben, auch die Kommunikation zwischen Individuen und Gruppen.

Als die Menschen vor etwa 10.000 Jahren mit der neolithischen Revolution von Jägern und Sammlern allmählich zu Ackerbauern wurden, entwickelte sich die Jagd zum herrschaftlichen Privileg. Die Ernährung wurde zum Spiegel sozialer Hierarchien. Während Mahlzeiten bis dahin vor allem einten, trennten sie nun Arm und Reich. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts entwickelten sich verschiedene Formen von Mahlzeiten. Die Tischgemeinschaft bildete und gliederte die Gesellschaft im griechischen Sparta um 500 v. Chr. Beim kollektiven Symposium im antiken Athen fielen wichtige kulturelle, politische und wirtschaftliche Entscheidungen. Schließlich entstand das Drei-Mahlzeiten-System im antiken Rom um Christi Geburt.

Mit dem Übergang von der Antike zur Völkerwanderungszeit (seit 400 n. Chr.) und dann zum Frühmittelalter veränderte sich die Mahlzeitkultur erneut: Gerade dem Sich-satt-Essen kam nun ein hoher gesellschaftlicher Stellenwert zu. Die Gestaltung von Mahlzeiten bekam einen immer größeren symbolischen Wert und wurde damit auch instrumentalisierbar. Der Adel konnte durch ein üppiges Gastmahl versuchen, seinen herrschaftlichen Einfluss zu vergrößern. Die Aufnahme in die Tischgemeinschaft bedeutete die Aufnahme in eine soziale Gruppe; das gemeinsame Mahl stärkte den Zusammenhalt. Die Tafelrunde des legendären britannischen Königs Artus legt davon ein literarisches Zeugnis ab. Die gemeinsame Mahlzeit begründete im frühen Mittelalter alle Sozialbeziehungen, womit sie in krassem Gegensatz zur heutigen Unverbindlichkeit des isolierten Essens steht.

Eine besonders scharfe Zäsur in der Genese moderner Mahlzeitensysteme fand schließlich im frühen 19. Jahrhundert mit dem Übergang zum Industriezeitalter statt: Industriell gefertigte Produkte beeinflussten tiefgreifend die Konsummuster und

Zubereitungstechniken. Die Nahrungsaufnahme musste sich nun dem Rhythmus der Maschinen anpassen. Die Fabrikarbeiter aßen hastig in kurzen Pausen oder sogar bei der Arbeit selbst. Die kollektive, familiäre Mahlzeit avancierte zur Sondersituation. Parallel dazu entwickelten sich erste bürgerliche Formen der Mahlzeit. Das Bild vom disziplinierungsbedürftigen Zappelphilipp verrät, wie stark ihre preußische Prägung war. Erziehung bei Tisch, militärische Manieren, strenger Gehorsam: Das sind die Prämissen des 19. Jahrhunderts.

Die gemeinsame Mahlzeit bildete von der Nutzbarmachung des Feuers bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts den Kern des sozialen Lebens. Sie schaffte den Raum für das Aushandeln von Beziehungen und war Zeichen von Integration und Ausgrenzung, von Gemeinschaft und Hierarchien.


Entwicklungen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges verschwand mit dem Wirtschaftswunder der Hunger aus Mitteleuropa und mit ihm eine Konstante der europäischen Nahrungskultur. Seit Jahrtausenden hatten sich Phasen des Hungers und Zeiten des Überflusses abgewechselt. Da der Hunger meist größer als der Überfluss war, entwickelte sich die Völlerei zum verbreiteten Sehnsuchtsziel. So ist auch das Verhalten der Menschen in den 1950er Jahren als Reaktion auf den Hunger der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahre zu deuten. Die Menschen konsumierten nun verstärkt und demonstrativ Lebensmittel, die bis ins 19. Jahrhundert als Luxusprodukte gehandelt worden waren: Schokolade, Sahne, Butter, Fleisch und Alkohol. Damit war der Grundstein für die Adipositas-Epidemie im Zeitalter des Massenkonsums gelegt.

Die gemeinsame Mahlzeit erlebte in den 1960er Jahren ihre letzte Blüte. Es deutete sich bereits ein tiefgreifender Wandel an: Die rasante Technisierung des Haushalts verhalf Tiefkühlkost und Convenience-Produkten zum Siegeszug. Der Jahreszeiten- und Ernterhythmus verlor seine prägende Kraft. Mit steigender Mobilität aß man immer seltener zu Hause.

Auf dem Tisch also war vieles neu, bei Tisch aber wurde weiterhin gemahnt: »Solange du die Füße unter meinen Tisch stellst, hast du zu tun, was ich sage!« Die bürgerlich-preußisch-militärischen Erziehungsmuster des 19. Jahrhunderts drückten der gemeinsamen Mahlzeit weiterhin einen patriarchalischen Stempel auf. Für Kinder und Jugendliche wurden sie gefühlt zum Exerzierplatz. Das änderte sich erst im Zuge der Studentenunruhen 1968, als autoritäre Muster in allen Lebensbereichen infrage gestellt wurden.

Parallel wuchs der Einfluss der Imbisskultur in den 1960er und 1970er Jahren. Nach dem Vorbild britischer Besatzungssoldaten aß man im Stehen. Dieser neue Essstil drang von den Großstädten in den ländlichen Raum vor. Der Imbiss bot eine Form der Nahrungsaufnahme, die frei von sozialen Zwängen war.


Gegenwart

Der Blick in die Vergangenheit zeigt, dass die gemeinsame Mahlzeit zwar stets Gemeinschaft stiftete, aber gleichzeitig auch Hierarchien festigte. Ist sie inzwischen unter die Räder der pluralen Lebensstilgesellschaft gekommen? Ja und Nein.

Ohne Zweifel hat sie viel von ihrem Zwangscharakter eingebüßt. Eine plurale, durch Milieus und Szenen geprägte Individualgesellschaft gibt eben auch die Freiheit, vom Tisch aufzustehen und zu essen, was, wie, wann und wo man will. Wer diesen Schritt wagt, entzieht sich sozialer und pädagogischer Kontrolle. Diese Freiheit kann für Eltern eine Herausforderung sein, wenn ihre Kinder allein essen und ihrem Einfluss entfliehen wollen.

Heute sind Ernährung und Mahlzeit so differenziert wie noch nie. Immer mehr Menschen essen alleine, außerhalb erlernter Chronologien und vor allem funktional. Die individuelle Ernährung kann Lebensstile und Weltdeutungen zum Ausdruck bringen. Ebenso spiegeln sich Sorgen um die ökologische Zukunftsfähigkeit der Erde und die Angst vor den Folgen des Klimawandels in der Ernährung wider. Unter diesem Aspekt lassen sich nicht nur Trends wie Veganismus verstehen. Die Menschen suchen nach traditionellen Werten, die der breiten Vertrauenskrise in der Gesellschaft zu trotzen scheinen.

Auch in der überindividualisierten Gesellschaft der Gegenwart bleibt der Mensch ein Sozialwesen. Er braucht Kommunikation, kann sich nur in Gemeinschaft entwickeln und leidet unter Einsamkeit. Menschen nehmen es oft als Defizit wahr, alleine essen zu müssen. Die gemeinsam eingenommene Mahlzeit zählt seit der Erfindung des Feuers zu den wichtigsten anthropologischen Konstanten. Sie steht in Zeiten der Vereinzelung für eine intakte Gemeinschaft.

Überflüssig ist sie nur vordergründig geworden, denn nie war sie so notwendig wie heute. Wie kaum eine andere Handlung stiftet gemeinsames Essen Vertrauen und Geborgenheit. Daher ist ein Blick auf die Zusammenhänge zwischen Esskultur, Tradition und Geschichte auch aus pädagogischer Perspektive sinnvoll. Sie gehören nicht nur in den Geschichtsunterricht, sondern sind auch für Religion und Ethik, Geografie und Kunst relevant – für die Naturwissenschaften sowieso. Die Geschichte des Essens zeigt nicht nur, wie die soziale Entwicklung zur Gegenwart verlaufen ist. Mit ihrer Hilfe lassen sich lebensnah frühere Sozialordnungen schildern und Idealvorstellungen vom Leben und vom menschlichen Körper erklären. Und schließlich bildet das Essen nach wie vor die Basis aller Gemeinschaftsformen. 


+++

Prof. Dr. Gunther Hirschfelder

ist Professor für Vergleichende Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg. Er erforscht die Ess- und Agrarkultur aus historischer und gegenwärtiger Perspektive.

 


+++

Sarah Thanner

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im BMBF-Projekt VIGITIA am Lehrstuhl für Medieninformatik der Universität Regensburg und promoviert derzeit im Fach Kulturanthropologie.


Lesen Sie jetzt: