Der Blick über den Tellerrand: Herausforderungen und Chancen interkultureller Bildung

Um bereits Kindern und Jugendlichen konstruktive und erfolgreiche Handlungsfähigkeit in einer durch Vielfalt geprägten Gesellschaft zu ermöglichen, ist die interkulturelle Bildung im Schulalltag wichtiger denn je. Aber wie erlernen Schülerinnen und Schüler die Fähigkeit zur Wahrnehmung und Wertschätzung kultureller Unterschiede und Gemeinsamkeiten?
AUTOR: ANTONIA SEIFERT | COLLAGEN: MARTIN O'NEILL | 2017/1

Es ist Dienstag, 12.35 Uhr. In der Klasse 7b des Phorms Gymnasiums Berlin Süd beginnt gerade die fünfte Stunde: Geschichte mit Herrn Diettrich. Nach einer freundlichen Begrüßung des jungen Lehrers sind die 14 Mädchen und Jungen dazu aufgefordert, die Folgen des Dreißigjährigen Krieges zu wiederholen. Im weiteren Stun­den­verlauf spricht die Klasse über Ludwig XIV. und Versailles. Trotz kontroverser Meinungen zum Erscheinungsbild des Königs, hören sich die Schülerinnen und Schüler aufmerksam zu, lassen sich ausreden und unterstützen sich in ihren Ausfüh­rungen. Unter ihnen ist Matthias Llerena Rosen. Matthias besucht seit rund einem Jahr das Gym­nasium in Zehlendorf. Eingeschult wurden er und sein Bruder Sebastian in Quito, Ecuador, wo beide auch geboren wurden. Spä­ter gingen sie in Panama City, São Paulo und Schles­wig-Holstein zur Schule. Als Matthias neu in seine jetzige Klasse kam, wurde er sofort herzlich aufgenommen. „Es hat mir direkt am ersten Tag super gefallen. Alle waren sehr nett und ich war gleich Teil der Gruppe“, erzählt der 13-Jährige und rollt dabei jedes „r“ ganz typisch spanisch.

Sein Bruder Sebastian besucht die 9. Klasse des Gymnasiums. Inzwischen hat die sechste Stunde begonnen und Sebastian hat Science bei Mister Earley. Der ebenfalls junge Lehrer aus England unterrichtet ausschließlich auf Englisch und auch die Schülermitarbeit findet nur in englischer Sprache statt – das ist Teil des Konzepts zum Fremdsprachenerwerb bei Phorms. Auch in dieser Klasse zeigen alle Interesse aneinander und der Unterricht ist geprägt durch ein freundliches Miteinander von Schülern und Lehrer. Außen­seiter scheint es hier keine zu geben. Valérie Hardt, Gymnasialleiterin vom Campus Berlin Süd, führt dieses Phänomen auf die Philosophie der Schule zurück: „Wir leben hier eine offene Willkommenskultur. Vielfältigkeit ist eine Selbstverständlichkeit, wir sehen sie als Ressource und nicht als Gefahr. Es ist völlig egal, wo jemand herkommt. Die gelebte Vielfalt ist Teil unseres Leitbilds.“

Grundpfeiler der interkulturellen Bildung

Über den Inhalt der interkulturellen Bildung herrscht Einigkeit bei Landesregierungen und Schulen: Bewusstsein für die kulturelle Prägung eigener und fremder Handlungsmuster, Wertschätzung kultureller Vielfalt und Diskursfähigkeit durch Sprachkompetenz markieren die wichtigsten Grundpfeiler in Rahmenlehrplänen und Schulprogrammen.

Was in der Theorie logisch klingt, ist in der Praxis eine große Herausforderung. Das weiß auch Regina Bendix, Professorin am Institut für Kulturanthropologie an der Georg-August-Universität Göttingen: „Es beginnt schon mit dem Verständnis des Kulturbegriffs und der Gefahr, den Begriff zu ganzheitlich zu verwenden. Ohne eine differenzierte Wahrnehmung und Verwendung kann es schnell zu einer Stereotypisierung kommen, die mit der eigentlichen kulturellen Vielfalt nicht mehr übereinstimmt.“

Interkulturelles Handeln erfordert Sensibilität

Lehrer haben schon lange nicht mehr nur die Aufgabe, Fachwissen zu vermitteln. Ihre Kompetenz in fachübergreifenden Themen wie der interkulturellen Bildung sollte Vorbildcharakter haben und die individuellen Bedürfnisse der Schüler berücksichtigen. Welche Auswirkung eine Stereotypisierung haben kann, wird am Beispiel von Matthias und Sebastian deutlich: Ihr Vater ist Peruaner, die Mutter halb schwedisch, halb deutsch. Aufgewachsen sind sie in Lateinamerika. Mit dem Umzug nach Schleswig-Holstein besuchten sie erstmals eine Schule in Deutschland. Matthias, das Kind mit dem deutschen Namen und den deutschen Sprachkenntnissen, galt dort als Schüler wie alle anderen auch. „Dass er aber nicht das deutsche Vokabular eines Gymnasiasten und auch keine Erfahrungen mit deutschen Textaufgaben hatte, wurde nicht berücksichtigt. Trotz meiner Versuche, mit den Lehrern zu sprechen und sie über unsere Her­kunft aufzuklären, fehlten die differenzierte Wahrnehmung und das Verständnis für meine Kinder“, erinnert sich Petra Rosen. Die Motivation von Matthias und Sebastian ließ nach und die Eltern sorgten sich erstmals um die Schulabschlüsse ihrer Söhne. Bei der erneuten Schulwahl in Berlin war Petra Rosen und Gonzalo Llerena klar, dass ein weiterer Neustart mehr Sensibilität seitens der Schule benötigt. Inzwischen haben ihre Söhne die Freude am Lernen wiedergefunden und können mit dem bilingualen Unterricht an ihre bisherige Sprachkompetenz anknüpfen.


Matthias und Sebastian besuchen das Gymnasium auf dem Phorms Campus Berlin Süd. 

Sie leben kulturelle Vielfalt tagtäglich in der Schule und zuhause.

 


Kulturelle Vielfalt thematisieren: ein Balanceakt

„In Bezug auf kulturelle Vielfalt muss eine Schule Differenzen in der individuellen Sozialisation erkennen, darüber aufklären und gegebenenfalls ausgleichen“, weiß Nina Kolleck, Professorin für Bildungsforschung an der Freien Universität Berlin. Ein erster wichtiger Schritt ist also getan, wenn sich Pädagogen über die verschiedenen Prägungen einer multikulturellen Schulgemeinschaft bewusst sind und sie berücksichtigen. Um aber Kindern und Jugendlichen die Bereicherung durch anderer Kulturen zu vermitteln, ist ein kultursensibles Handeln enorm wichtig. Dabei gilt es, den Kulturbegriff nicht einfach synonym für Migrationshintergründe oder Glaubensrichtungen zu verwenden. „Jeder Mensch hat Kultur und eine eigene kulturelle Prägung, die sehr viel mehr als nur Herkunft und Religion umfasst. Und genau dieses Verständnis sollte in der interkulturellen Bildung herausgearbeitet werden“, so Regina Bendix. Und da lauert auch schon der nächste Stolperstein: Denn die Herausforderung bestünde nach Meinung der Kulturanthropologin darin, kul­turelle Unter­schiede wie landestypisches Essen oder Kleidung nicht einfach zu präsentieren und damit die Differenzen hervorzuheben, sondern sich als Menschen unterschiedlichster Kulturen miteinander zu vergleichen und Gemeinsamkeiten festzustellen. Nina Kolleck sieht das ähnlich: „Interkulturelle Bil­dung heißt nicht, dass man Grenzen zwischen Kulturen zieht, sondern aufzeigt, wie sie sich wechselseitig beeinflussen und wie sie entstehen. Um das für Schüler greifbar zu machen, sollte immer wieder das Alltägliche mit einbezogen werden.“

Chancen erkennen und nutzen

Schule an sich bietet bereits gute Voraussetzungen, kulturelle Vielfalt zu erleben. „Wenn wir die Schule als micro res publica betrachten, dann gestaltet sich die Interkulturalität in erster Linie über den Diskurs, das heißt, wenn junge Men­schen miteinander reden“, erklärt Michael Gehrig, Schulleiter der Phorms Schule Frankfurt, deren Schülerschaft sich an zwei Standorten aus über 50 Nationen zusammensetzt.

Im Austausch über Kulturen bieten sich dabei Chancen auf Seiten der Schüler und Lehrer. Kinder, die in einem heterogenen Kontext aufgewachsen sind, nehmen zwar Differenzen wahr, halten sie aber für völlig normal, richten ihr Handeln nicht danach aus und demonstrieren damit ein idealtypisches, interkulturelles Verhalten.

So auch Tristan von der Hagen aus der 6. Klasse vom Phorms Campus Berlin Mitte. Bis vor knapp zwei Jahren ist der 11-Jährige in Vietnam zu Schule gegangen. Auf die Frage, woran er merkt, ob seine Mitschüler oder deren Eltern aus einem anderen Land kommen, antwortet er: „Ich merke das nicht. Ich weiß es nur, wenn sie es mir sagen.“ In seiner Klasse sind Kinder aus Deutschland, Spanien, Portugal, der Türkei, Kanada und Russland. Tristan selbst hat eine chinesische Mutter und einen deutschen Vater. „An diesem Punkt können Lehrer anknüpfen, indem sie erklären, welche Phänomene wir ganz selbstverständlich unserer Kultur zuordnen, aber eigentlich aus anderen Kulturen stammen. Und wie stark sich das Eigene mit dem Fremden vermischt und oft nicht mehr eindeutig zu unterscheiden ist“, empfiehlt Nina Kolleck.


Tristan ist in der 6. Klasse auf dem Phorms Campus Berlin Mitte.

Bis vor knapp zwei Jahren ist der 11-Jährige in Vietnam zu Schule gegangen.

 


Sebastian Rosen hat mit seinen 15 Jahren bereits ein sehr umfassendes Verständnis von Kultur und Interkulturalität: „Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen sollten alle gut miteinander klarkommen und wissen, dass wir irgendwie alle verwandt sind. Und jeder sollte weltoffen auf andere Menschen zugehen, egal welcher Herkunft, Geschlecht oder Religion, um von ihnen zu lernen und Neues zu erfahren.“ 

Sein Verständnis von Interkulturalität spiegelt die von Valérie Hardt beschriebene Willkommenskultur wider und war ein Grund für die Auswahl der Schule. Auch Tristans Eltern schätzen die Vielfalt bei Phorms. „Es ist gut für Tristan, das Interkulturelle über die eigene Familie hinaus zu erfahren – wer weiß, wo er mal auf der Welt leben wird”, sagt Wolf von der Hagen. 

Zur Diversität an Schulen tragen aber auch die Lehrer selbst bei, die insbesondere in Großstädten oder an bilingualen Schulen ein multikulturelles Kollegium bilden. Bei Phorms stammt in Folge des bilingualen Unterrichts durch Lehrer aus englischsprachigen Ländern, die Hälfte des Kollegiums aus dem Ausland. Hinzu kommen die Fremdsprachenlehrer für Spanisch und Französisch, die im besten Fall ebenso Muttersprachler sind – wie es aktuell am Phorms Campus Berlin Süd der Fall ist.

Die Vorbildfunktion der Lehrer beeinflusst die interkulturelle Bildung entscheidend. Sie fungieren als Instanz und sollten sich ihrer Rolle bewusst sein. Nina Kolleck ist der Meinung, dass Lehrer radikalen Tendenzen entgegenwirken sollten und unterschiedlichste Sozialisierungen in der Aufklärung berücksichtigen müssen – speziell, wenn die Erziehungsleistung der Eltern an dieser Stelle nicht stattgefunden hat.

Der Blick über den Tellerrand

Um Kindern und Jugendlichen zu Diskursfähigkeit zu verhelfen, ist einerseits ein Verständnis der Inhalte nötig und andererseits die Sprache selbst. Die Sprachbildung markiert im Kontext der interkulturellen Bildung einen zentralen Kern. Dabei geht es in erster Linie darum, die gemeinsame Verständigung innerhalb einer multi­kulturellen Gesellschaftsform wie der Klassengemeinschaft sicherzustellen. Michael Gehrig weist darauf hin, dass der sinngebende und sinnverstehende Umgang mit Sprache ebenso wichtig ist wie die Fremdsprachen­bildung. Englisch gilt nach wie vor als lingua franca und ermöglicht es den Schülern, sich später in vielen Teilen der Welt verständigen zu können. Nina Kolleck wünscht sich, dass Schulen die Fremdsprachenbildung noch weiter ausbauen und somit ihren Schülern einen noch besseren Zugang zu anderen Kulturen ermöglichen.

Dienstags haben Matthias und Sebastian um 15 Uhr Unterrichtsschluss. An den Unterricht schließen sich täglich freiwillige Arbeitsgemeinschaften an. Neben einem Sportclub, einer Theater-AG, einem Chor und einer Mathe-AG wird von der Spanischlehrerin am Gymnasium auch eine Kultur-AG angeboten. „Unsere spanische Kultur-AG trifft sich mit Señora Delgado einmal wöchentlich. Dort setzten sich die Kinder mit der spanischen Kultur in Form von Bräuchen, Rezepten, Traditionen, Politik und Musik auseinander. Am Ende des Schuljahres gipfelt das Ganze dann mit einer Fahrt in eine spanische Stadt“, erklärt Valérie Hardt. Ein ganzes Schuljahr werden etwa 20 Kinder theoretisch über die spanische Kultur informiert, um sie dann im Anschluss praktisch kennenzulernen. Sebastian hat letztes Jahr gemeinsam mit der AG Grenada besucht. Dieses Angebot bei Phorms in Zehlendorf ist beispielhaft für den wachsenden Bedarf an interkultureller Bildung, die nicht nur fachübergreifend, sondern im Idealfall auch über den eigentlichen Unterricht hinaus an Schulen stattfinden sollte.           


Lesen Sie jetzt:

Kulturelle Vielfalt im Unterricht

Nicht nur die Schülerinnen und Schüler bei Phorms kommen aus unter­­schied­lichen Teilen der Welt, sondern auch die Pädagoginnen und Pädagogen. Phorms beschäftigt insgesamt 769 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter*, die neben Sprache, Kultur und Tradition auch unterschiedliche pädagogische Methoden in den Schul- und Kindergartenalltag einbringen.
2017/1
AUTOR: JASMIN WILCZEK | COLLAGE: MARTIN O'NEILL