Haben wir zu hohe Erwartungen?

Die Mutter, Großmutter, Autorin und Literaturwissenschaftlerin Xenia Frenkel fragt sich, ob wir heutzutage manchmal doch zu hohe Erwartungen an unsere Sprösslinge haben und, ob selbstständigeres Lernen und Fehler machen auch zur Entwicklung dazugehören
Autor: Xenia Frenkel | Illustration: Anja Riese | 2018/2

Vor ein paar Jahren fragte ich im Rahmen eines Interviews eine Kinder- und Jugendtherapeutin, welche Kinder denn so in ihre Praxis kämen. Sie sah mich streng an und sagte dann: »Sie meinen vermutlich, welche Eltern?« Das hatte ich nicht gemeint, doch dann erzählte sie, dass weit über die Hälfte ihrer jungen Patienten eigentlich keine Therapie bräuchte – wenn die Eltern akzeptieren würden, dass ihr Kind ganz normaler Durchschnitt ist. Heute jedoch müsse jedes Kind außergewöhnlich sein. Lustig und immer gut gelaunt, Leseratte und Sportskanone, mutig und vorsichtig, selbstbewusst und bescheiden, gesellig und nachdenklich, willensstark und anpassungsfähig, gut in der Schule.

Ich fühlte mich ertappt. Auch ich hatte hohe Erwartungen an meine vier Kinder. Wie die meisten Eltern verband ich mit ihnen meine schönsten Hoffnungen, Träume und Wünsche. Ich wollte, dass sie ihr Kinderleben meistern und mit Herausforderungen und Hürden zurechtkommen. Das gestaltete sich allerdings nicht so einfach, wie ich es mir ausgemalt hatte.

Ziemlich schnell stellte sich heraus, dass ich keine Wunderwesen in diese Welt gesetzt hatte, sondern ganz normale Kinder, die sich manchmal stritten, schlechte Laune hatten und gern irgendwelchen Mist machten. Zwei meiner Kinder gingen auch nicht besonders gern zur Schule. Schulisches Lernen war ihnen ein Gräuel, was sich in ziemlich mäßigen Noten widerspiegelte. Dabei waren sie meiner Überzeugung nach intelligent und begabt. Wie konnte das sein?

Um der Frage auf den Grund zu gehen, habe ich meinen Sohn – damals in der 1. Klasse – zu einem Hochbegabtentest geschleppt. Nicht, weil er überragende Leistungen zeigte, eher im Gegenteil: Weil er längst lesen, schreiben, rechnen konnte, langweilte er sich und spielte den Klassenclown. Bei dem Test kam nicht viel heraus. Sein IQ lag etwas über dem Durchschnitt. Die Schulpsychologin meinte noch lapidar, »dass jüngere Geschwister vieles schon können, was in der ersten Klasse dran ist. Das ist ganz normal. Sie schnappen eben viel von den älteren Kindern auf. Der Nächste, bitte.«

Mein »Fehler« waren meine Erwartungen. Im Übrigen haben nur fünf Prozent der Weltbevölkerung einen IQ, der merklich nach oben – oder unten – abweicht. Ja, jedes Kind ist einzigartig und wunderbar, aber ansonsten aller Wahrscheinlichkeit nach ganz normaler Durchschnitt. Wir Eltern tun gut daran, uns das immer mal wieder bewusst zu machen. Denn Erwartungen machen etwas – mit einem selbst und mit den Menschen, an die sie sich richten: unseren Kindern.

Fast jeder zweite Schüler leidet unter Stress

Der Präventionsradar 2017 der DAK-Gesundheit, bei dem knapp 7.000 Schüler aus mehr als 400 Klassen der Jahrgangsstufen fünf bis zehn repräsentativ befragt wurden, zeigt, dass fast jeder zweite Schüler (43 Prozent) unter Stress leidet. Ein Drittel der befragten Jungen und Mädchen gab an, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen oder Schlafprobleme zu haben. Dabei fühlten sich Mädchen noch häufiger gestresst als Jungen. 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen erleben Schule als Belastung und geben an, zu viel für die Schule zu tun zu haben. Sowohl Stress als auch somatische Beschwerden nehmen mit den Schuljahren zu.

Viele Eltern sind überzeugt, dass daran einzig und allein die Schule schuld ist. Ich bin allerdings nicht sicher, ob das stimmt. Ich kenne einfach zu viele Mütter und Väter, die ihre Kinder gewaltig unter Druck setzen. Natürlich nicht mit Vorsatz, das passiert eher unbewusst. So brüsten sich Eltern beispielsweise damit, dass ihr kleiner Theo-Amadeus ein »Superhirn« ist, das sich am liebsten allein mit irgendwelchen komplizierten Puzzles beschäftigt. Dass ihr Sohn dabei nicht besonders glücklich wirkt, sehen sie nicht. Oder auf dem Fußballfeld: Da werden mit hochrotem Kopf die Nachwuchstalente angefeuert, und wehe, wenn ein leicht verwirrter Achtjähriger in die falsche Richtung spurtet oder kurz vor dem Tor fasziniert stehen bleibt, während die gegnerische Mannschaft an ihm vorbeidonnert. Dann werden ihm aber die Leviten gelesen.

»Helikopter-Eltern« – Eine Plage

Auch ich bin um meine Kinder herumgeschwirrt, sobald etwas nicht so lief, wie ich mir das vorgestellt hatte – lange bevor der Begriff »Helikopter-Eltern« hierzulande Einzug hielt. Zum Glück haben meine vier jedes Mal energisch Widerstand geleistet. Dass trotz mancher Turbulenzen mit ihnen alles in Ordnung war, zeigte sich weniger im Unterricht als vielmehr bei den Aktivitäten, die sie sich selbst ausgesucht hatten. Meine Älteste, damals zwölf, transportierte ihre getöpferten Schalen und Vasen zum Glasieren und Brennen quer durch die Stadt. Wenig später suchte sie sich zusätzlich eine freie Theatergruppe. Sie kam nie zu spät und verpasste keine einzige Probe. Leonie las von früh bis spät – und zwar nicht für die Schule –, Paulina hämmerte bis in die Nacht Eigenkompositionen in die Klaviertasten und Ruben trainierte jahrelang jede freie Minute auf seinem Skateboard. Nicht mal gezerrte Sehnen und Platzwunden hielten ihn davon ab. Manchmal rutschte mir raus: »Könntest du dich vielleicht auch in Mathe so reinknien?«, aber letztlich war das nur eine rhetorische Frage. Um ein Kind, das für etwas brennt, muss man sich keine Sorgen machen, selbst wenn es in der Schule gerade nicht so toll läuft. Übertriebene Erwartungen hingegen verstellen den Blick aufs eigene Kind. Man sieht nur noch die Leistung, die es erbringt, egal wie. Das macht krank und unglücklich.

Man tut gut daran, sein Kind nicht in ein Korsett zu klemmen, bis ihm keine Luft mehr für die wirklich wichtigen Dinge bleibt, nämlich jene, die es aus eigenem Antrieb tut. Anders gesagt, wir brauchen dringend mehr Vertrauen in die Selbstwirksamkeitskräfte von Kindern, so wie es der Schweizer Entwicklungspsychologe Jean Piaget beschreibt: »Die Unternehmungen, die zu seiner Entwicklung führen, steuert das Kind aus sich selbst heraus. Um Akteur ihrer eigenen Entwicklung zu sein, brauchen Kinder Wahrnehmung, Sprache, Bewegung, Denken und Fühlen, sie müssen selbst entscheiden und sich Wissen über die unzähligen Einzelheiten der Welt aneignen.«

Im Übrigen sind übertrieben ehrgeizige Mütter und Väter, die ihren Nachwuchs ständig kontrollieren, pushen und sich in dessen Erfolgen und Talenten sonnen, eine Plage. Kinder, denen irgendwelche »Kunstfertigkeiten« antrainiert werden, sind oft konkurrenzbesessen und entwickeln mit erschreckender Schnelligkeit Gefallen an Hackordnungen. Das sollte einem zu denken geben. Wachsen sie hingegen in einer fröhlichen, ungezwungenen Atmosphäre auf, wo sie ermutigt werden, ihren Interessen und Neigungen eigenständig nachzugehen, wo man ihnen viel zutraut und sie ihre Entwicklung durch eigenverantwortliches Handeln und Mitsprache mitgestalten dürfen, zeigen sie nicht nur, was in ihnen steckt – sie entwickeln auch Gemeinsinn, Verantwortungsgefühl und Zuversicht.

Natürlich dürfen wir unsere Kinder anfeuern, ihr Bestes zu geben, aber das tun sie ganz von allein, wenn sie spüren: »Ich bin richtig so, wie ich bin. Meine Eltern haben Vertrauen in mich und meine Fähigkeiten, und wenn’s mal nicht gut läuft, ist das nicht schlimm.«


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Xenia Frenkel ist vierfache Mutter und hat sechs Enkelkinder zwischen 2 und 17 Jahren. In die Reflexionen der Literaturwissenschaftlerin fließen mehr als drei Jahrzehnte Erziehungspraxis ein, die sie gerne als freiberufliche Journalistin teilt.


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