Effektives Lernen vs. Bulimie-Lernen

»Wir sind keine Speicherkarten, die nach Belieben unendlich viele Informationen aufnehmen« – Ein Interview mit Brigitte Reysen-Kostudis, Diplompsychologin und psychologische Beraterin an der Freien Universität zu Berlin
Fotos: privat | 2018/2

Frau Reysen-Kostudis, Sie beraten Studierende, die oft nicht wissen, wie sie Lernstoff effektiv bewältigen sollen. Was bedeutet für Sie »effektives Lernen«?
Brigitte Reysen-Kostudis:Viele kommen in meine Uni-Sprechstunde und denken, dass man effektiv lernt, wenn man sich Lernstoff in wenig Zeit einverleibt. Genau das Gegenteil ist aber der Fall. Man darf nicht vergessen: Wir sind keine Speicherkarten, die nach Belieben unendlich viele Informationen aufnehmen. Effektives Lernen ist weit mehr als eine Anhäufung von Wissen. Vielmehr sollte es gelingen, mir leicht und mit möglichst wenig Druck Dinge anzueignen, die ich als wichtig erlebe, und die mich langfristig weiterbringen.

Wie sollte man Ihrer Meinung nach am besten ans Lernen herangehen?
Ich sollte mir am besten eine Lernstrategie aneignen, in der ich in verschiedenen Stufen lerne. Zunächst mache ich mich mit dem Stoff vertraut und finde heraus, was absolut notwendig ist und was ich vernachlässigen könnte. Es geht nicht darum, alles strikt linear durchzuarbeiten, sondern dass ich in mehreren Teilschritten angemessene Strategien für den Lernprozess anwende: Sondierungsphase, Wissensaneignung, Überprüfungs- und Wiederholungsphase.

Nun sitzt ein Schüler oder Studierender vor einem Berg an Lernstoff und versucht, alles stur auswendig zu lernen – das sogenannte »Bulimie-Lernen«. Was verstehen Sie unter diesem Begriff?
Bulimie-Lernen bedeutet meiner Meinung nach, möglichst viel Faktenwissen anzuhäufen mit dem Wunschdenken, dass ich am Ende alles weiß. Die Gefahr dabei ist – genau wie beim gleichnamigen Krankheitsbild –, dass beim Bulimie-Lernen irgendwann die Kontrolle verloren geht. Man »stopft« alles in kürzester Zeit in sich hinein, ohne den Stoff zu durchdringen oder Zusammenhänge zu verstehen. Das kann unter Umständen eine Zeit lang gut gehen. Was wir an der Uni allerdings häufig erleben, ist, dass sich das Ganze verselbstständigt und bereits Schüler sich angewöhnt haben, sich Wissen nur oberflächlich anzueignen. Schüler und Studenten mit solchen Lernerfahrungen bekommen über kurz oder lang Probleme, weil der Stoff hier so umfangreich wird, dass es mit so kurzfristigen Strategien wie Bulimie-Lernen gar nicht mehr geht.

Wie könnte man das Phänomen »Bulimie-Lernen« Ihrer Meinung nach am besten vermeiden?
Ich glaube, dass das Lernen bei vielen Schülern oft als unangenehme Pflicht angesehen wird. Allein der Gedanke, Lernen könne Spaß machen oder man habe ein gutes Gefühl, wenn man sich Wissen aneignet, geht oft verloren durch den Druck, den die Jugendlichen heutzutage haben. Es ist wichtig, aus der puren Aufnahmereaktion herauszukommen. Man sollte das Lernen strukturieren und es selbst bestimmen, denn so wird es einem auch Spaß machen. Wenn ich etwas wirklich wissen oder beherrschen will, dann bleibe ich auch dran und brauche dafür gar nicht viel Selbstdisziplin. Ich glaube nicht daran, dass es diese eine Lernstrategie gibt, die auf jede Prüfung anwendbar ist. Jeder Lernstoff, der neu dazukommt, erfordert vielleicht eine neue Strategie. Wichtig ist vor allem, dass ich mich selbst ernst nehme, mich selbst reflektiere, kontinuierlich an meinem Lernprozess teilhabe – mich selbst beobachte, wie ich funktioniere und am besten lerne. Daraus kann man die nötigen Konsequenzen ziehen, was klappt und was nicht.

+++


Lisa Schüfer, Grundschulleiterin der Josef-Schwarz-Schule

»Wenn Schüler im Unterricht mit Freude und Neugier an ein Thema herangehen können und ihr Interesse durch lebensnahe Beispiele geweckt wird, dann ist der Grundstein für effektives Lernen gelegt. In meinem Unterricht versuche ich, Schüler für ein Thema einzunehmen, sodass sie es in einer Freiarbeitsphase selbst erarbeiten und intensivieren können. Anschließend begeben wir uns gemeinsam in die Reflexion des Lernprozesses und des Gelernten. Die Schüler lernen damit selbstständig und meiner Meinung nach auch effektiv.«

+++


Hannes Israel, Alumnus des Phorms Campus Berlin Mitte

»Effektives Lernen bedeutet für mich, vollkommen auf mich selbst fokussiert zu sein. In die Bibliothek zu gehen oder Noise-Cancelling-Kopfhörer zu tragen – das hat mir geholfen, weil ich schnell abgelenkt bin. »Bulimie-Lernen« hat nie funktioniert, weil ich nicht der Typ dafür bin. Auf den letzten Drücker und komplett abgekapselt zu lernen – das konnte ich noch nie. Während der Abiturzeit war der Austausch mit Mitschülern über Ergebnisse und Karteikarten auch sehr hilfreich.«

+++


Lisa, Schülerin in der 11. Klasse am Phorms Taunus Campus (Frankfurt)

»Effizientes Lernen beginnt schon im Unterricht: den Inhalt in der Klasse zu verstehen und sich damit auseinanderzusetzen. Wenn das Gelernte wiederholt wird, prägt es sich automatisch besser ein. Oft hilft es auch, jemandem den Lernstoff zu erklären. Am wichtigsten ist für mich die Organisation: Hausaufgaben und Klausurtermine schreibe ich mir auf und plane dementsprechend meine Freizeit. Durch einen selbstgeschriebenen Lernzettel oder eine Grafik für komplexere Inhalte reflektiere ich bereits automatisch den Lernstoff. Insbesondere in den Naturwissenschaften lerne ich auch mit den Aufgaben, die wir im Unterricht bearbeitet haben.«

+++


Anne Röhner, Koordinatorin Sekundarstufe I am Phorms Campus Hamburg

Als Sportlehrerin weiß ich, wie man am effektivsten trainiert (und auch lernt!). Es geht nicht nur darum, Schweiß auf dem Sportplatz zu lassen. Man muss die eigenen Ressourcen erkennen, anwenden und  entwickeln. In meinem Unterricht versuche ich auch immer eine angenehme Lernatmosphäre zu schaffen, in der gelacht wird und Erfolge gefeiert werden. Und wer kennt nicht das Erfolgsgefühl nach langem Training bzw. kontinuierlichem Üben, das einem vor Stolz das breiteste Lächeln oder den lautesten Jauchzer entlockt? So lernt man effektiv – und für’s Leben!

+++


Franziska Ibscher, Alumna des Phorms Campus München

Früh anfangen mit dem Lernen, öfter Pausen machen und kapitelweise lernen – das hat meine Aufnahme- und Konzentrationsfähigkeit während der Abiturzeit optimiert. Da ich ein visueller Typ bin, habe ich viel mit der Hand aufgeschrieben. Am meisten hat es mir geholfen, wenn ich mir laut die Konzepte erklärt bzw. sie aus meinen Notizen vorgelesen habe. To-do-Listen sorgten dafür, den Überblick zu behalten und meine Zeit optimal zu investieren. Oft habe ich mein Handy für längere Zeit ausgeschaltet, was mir erlaubte, effektiv zu lernen und viel Material zu bearbeiten.

+++


Elisabeth, Schülerin in der 12. Klasse am Phorms Campus Berlin Süd

Das Geheimnis hinter schulischem Erfolg ist meiner Meinung nach durch drei Faktoren bedingt: Koordination, Fleiß und Motivation. Wichtig ist, immer ein Ziel vor Augen zu haben, für das man sich bemüht. Sehr empfehlenswert ist dabei die Vor- und Nachbereitung. Auch kann man seine Freistunden sinnvoll für Hausaufgaben, Präsentationsvorbereitung oder Wiederholungen nutzen. Wenn man sich in der Schule verbessern möchte, sollte man auch seine Schwachstellen erkennen. Dabei helfen kann ein Gespräch mit dem Klassenlehrer oder mit den Eltern.


Lesen Sie jetzt:

Das bilinguale Lernerlebnis

Mit Immersion Sprachen automatisch erwerben – Kinder und Jugendliche eignen sich mit dieser Methode Sprache auf ganz natürliche Art und Weise an, ohne lästiges Auswendiglernen. Dieser Praxis liegen verschiedene Erkenntnisse zum Fremdsprachenerwerb und den kognitiven Vorteilen ganzheitlicher Lernumfelder zugrunde
2018/2
Autor: Selena Mell | Illustration: Anja Riese