Ein Abend voller Begegnungen

Hallo, ich heiße Edgar, bin elf Jahre alt und gehe in die 6. Klasse auf dem Phorms Taunus Campus in Steinbach. Ich habe diesen Text beim Kinder- und Jugendliteraturwettbewerb Hochtaunuskreis und Main-Taunus-Kreis eingereicht. Man sollte eine spannende und außergewöhnliche Kurzgeschichte, ein Märchen oder eine Science-Fiction-Geschichte schreiben, die das Motto »Begegnungen« beinhaltet. Viel Spaß beim Lesen!
Text: Edgar | Illustration: pixabay.com/Lwcy Design | 2018/2

Ich saß mit geschlossenen Augen in der U-Bahn, die durch die Dunkelheit fuhr. Mein Versuch zu schlafen war gescheitert, da man bei den Hintergrundgeräuschen einfach nicht abschalten konnte. Das gleichmäßige Geräusch der sich öffnenden und schließenden Türen, das Geklapper der Stöckelschuhe auf dem Boden, das Gerede der vielen Menschen auf dem Heimweg.

Normalerweise kam ich früher von der Schule nach Hause. Heute gab es aber zu viel zu tun, als dass ich die Aufgaben in meiner normalen Zeit hätte schaffen können. Meine Armbanduhr piepste. Es war schon 19 Uhr. Ein Blick durch den Waggon verriet mir, dass der Fahrkartenkontrolleur eingestiegen war. Es war ein junger Mann, schätzungsweise Mitte 20, mit orientalischen Zügen. Er lief langsam durch die Bahn, musste sich aber trotzdem oft vor dem Stolpern bewahren, weil die Bahn oft abrupt abbremste.

Der Kontrolleur war fast bei mir angekommen, als die Bahn mit einem heftigen Ruck endgültig zum Stillstand kam. Alle Lichter gingen aus. Aus der hellen Bahn wurde eine dunkle. Neben der Strecke brausten die Autos auf der Hauptstraße vorbei. Ich wünschte mir auch, mit dem Auto nach Hause fahren zu können, als der Fahrer sich mit einer Lautsprecherdurchsage meldete: »Meine Damen und Herren, wir haben leider einen Stromausfall. Die Bahn kann also nicht weiterfahren. Ich bitte Sie, Ruhe zu bewahren und entschuldige mich hierfür sehr.« – »Und wir dürfen nicht mal aussteigen«, dachte ich mir. Ich hörte, wie der Schaffner vor sich hinmurmelte: »Damit ist meine Arbeit wohl getan.«

»Ist echt nervig, oder?«, versuchte ich ein Gespräch mit dem Fahrkartenkontrolleur zu beginnen. »Ja, ziemlich«, antwortete der junge Mann. Jetzt aus der Nähe entdeckte ich erst die Narbe in seinem Gesicht, die sich von seinem rechten Ohr bis zu seinem Mundwinkel zog. »Wie haben Sie die denn bekommen?«, fragte ich neugierig. Er gab mir zur Antwort: »Ach, ich bin vor zwei Jahren aus Syrien nach Deutschland geflohen. In der Türkei ist nicht weit von mir eine Granate explodiert. Ein Splitter hat mich im Gesicht getroffen.« »Das ist ja schrecklich«, fand ich. »Aber meines Empfindens nach sprechen Sie schon fließend Deutsch. Wie haben Sie das geschafft?« »Also, es war nicht sehr leicht, sich in diese Kultur einzuleben. Vor allem, wenn man die Sprache nicht spricht. Aber ich habe viele Sprachkurse besucht und irgendwann konnte ich es. Und seitdem bin ich immer besser geworden.« Ich war sehr beeindruckt. In dem Moment, als ich sagte: »Hoffentlich fährt die Bahn mal wieder«, fuhr die Bahn an. Ich war froh, bald zuhause zu sein, und der Fahrkartenkontrolleur auch. Das sah man ihm an…


Von der Bahnstation war es nicht mehr weit zu mir nach Hause. Ich wohne neben einer Bücherei. Dort ging ich normalerweise immer nach der Schule hin. Ich überlegte, ob ich mich heute auch dorthin begeben wollte. Da hörte ich meinen Nachbarn sagen: »Guten Abend. Heute mal ein bisschen spät dran, was?« »Ja«, antwortete ich. »Es gab viel zu tun, und dann gab es noch den Stromausfall und die Bahn musste stehen bleiben!« »Ja, den Stromausfall habe ich auch bemerkt. Ich habe ferngeguckt und plötzlich ist der Fernseher ausgegangen. Das war total nervig«, entgegnete mein Nachbar.

Ich verabschiedete mich und ging in meine Wohnung. Ich leerte meine Tasche auf meinen großen gelben Sessel. Da fiel mir ein, dass ich mir ja noch den ersten Band der Känguru-Trilogie ausleihen wollte. Dieses Buch hatte mir mein Freund empfohlen. Ob die Bücherei wohl noch offen hatte? Ich hatte die Öffnungszeiten leider nicht im Kopf.

Ich schnappte den Schlüssel und ging aus dem Haus. Es war eiskalt. Ich konnte meine ausgeatmete Luft als Nebel erkennen. Insekten schwirrten um die Laternen, die ein gelbliches Licht ausstrahlten. Es braucht nur wenige Schritte, um zur Bücherei zu gelangen. Sie war in einem dreistöckigen Gebäude untergebracht, von denen aber nur zwei in Anspruch genommen wurden.

Drinnen wurde mir mit einem Schlag wärmer. Am Tresen der Bibliothek saß eine ältere Frau, die mich begrüßte. »Kann ich irgendwie helfen?«, fragte sie. »Ja, ich suche Band eins der Känguru-Chroniken.« »Der befindet sich oben«, gab sie mir Rat. »Vielen Dank«, bedankte ich mich.

Im oberen Stockwerk herrschte Totenstille. Da kam ein schwarzer Mann auf mich zu: »Suchst Du etwas?«, fragte er mich mit einer ungewöhnlich dunklen Stimme. »Ja, die Känguru-Chroniken«, antwortete ich. »Die Frau unten am Tresen hat mir gesagt, ich würde hier fündig werden.« »Da hat sie gewiss Recht! Folge mir. Übrigens habe ich die Känguru-Reihe auch schon gelesen. Das sind sehr tolle Bücher.« »Das hat mir mein Freund auch gesagt«, sagte ich. Ich nahm das Buch aus dem Regal und bedankte mich höflich.

Fröhlich ging ich nach Hause. Als ich zuhause in meinem Bett lag, dachte ich über das angefangene Buch nach und träumte davon: »Es klopft an der Tür. Ich öffne und stehe einem Känguru gegenüber. Ich gucke die Treppe runter und dann die Treppe rauf…«


Lesen Sie jetzt:

»Alle Kinder gehen gerne zur Schule!«

Finn und Alexander besuchen die 5. Klasse des Phorms-Gymnasiums München und nahmen im Rahmen des Geografie-Enrichment-Kurses* mit der Lehrerin Elisabeth Hofstetter am Schulwettbewerb »Alle für EINE WELT für alle« 2017/2018 teil
2018/1
Foto: Phorms Education SE | Text: Finn und Alexander