Kampf dem Hunger

Auf dem Phorms Campus Berlin Mitte findet ein Gipfeltreffen der internationalen Staatengemeinschaft statt. Der Arbeitstitel lautet „Feed the People“. Zwischen den Vertretern aus 42 Ländern tummeln sich auch Undercover-Agenten der al Qaida, Julian Assange und der Papst
AUTOR: MARIE SCHÜTZ | FOTO: ANDREA USISON | 2014/1

 

Den Gipfel einberufen hat Christopher Slattery. Auch Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz, internationale Organisationen wie der IWF, die OPEC und Interpol haben daraufhin ihre Vertreter nach Berlin geschickt. Die Nachrichtenagentur Reuters begleitet das Gipfeltreffen medial. Slattery ist Lehrer im Gymnasium des Phorms Campus Berlin Mitte. Insgesamt nehmen 120 Schülerinnen und Schüler, drei Alumni und 20 Lehrerinnen und Lehrer teil, denn - es handelt sich um eine Simulation. Heute soll die Nahrungsknappheit, die in einigen Teilen der Welt herrscht, mit den Mitteln der internationalen Diplomatie wenn auch nicht behoben, so doch verhandelt werden. Dass dazu Kooperationen und Verträge in ganzen anderen Bereichen nötig sind, lernen die Schülerinnen und Schüler sehr schnell.

Christopher Slattery begrüßt zunächst die Teilnehmer und erklärt den genauen Zeitablauf sowie wichtige Regeln. Die Schüler sitzen ähnlich wie bei einer UN-Generalversammlung nach Wichtigkeit der Staaten im großen Tischhalbkreis. Viele der Schüler sind den Traditionen ihres Landes entsprechend plakativ gekleidet: Tschador, Bambushut und Baskenmütze, der Papst natürlich ganz in weiß. Die Staaten sind, je nach realer wirtschaftlicher Lage, zum Beispiel im Besitz von Erdöl und Rohstoffen oder benötigen Hilfsgüter, um Nahrungsmittel zu produzieren. Alle müssen mit ihren Gütern am Weltmarkt handeln und wollen möglichst Macht demonstrieren. Aber an dieser Stelle setzt bereits die Realität ein. Was tun, wenn ein Staat nicht über die nötigen Kapazitäten verfügt, seine Rohstoffe zu verarbeiten? Was wenn ein Land weder über Maschinen noch über wertvolle Rohstoffe verfügt? Welche Konsequenzen und Vorteile ergeben sich für ein Land, wenn es wirtschaftlich schwache Staaten unterstützt? Und wo steckt eigentlich Julian Assange? Die Schüler lernen durch die Simulation hochkomplexe wirtschaftliche und politische Zusammenhänge kennen.

Im Vorfeld haben sie sich im Unterricht gut auf die Simulation vorbereitet. Sie haben sich über aktuelle Spannungen und die Entwicklungen um Edward Snowden informiert, über langwierige Krisenherde wie den Nahost-Konflikt oder das Handelsembargo der USA gegen Kuba.

Als die Simulation beginnt, tummeln sich die Schüler um Tische, diskutieren, verhandeln, berücksichtigen aktuelle und vergangene Unstimmigkeiten und halten für einen Moment, bei neuen Bekanntmachungen über das Rednerpult, inne. Handelsembargos, Vertragsentwürfe, Staatsübereinkommen – die Schüler behalten den Überblick. Sie alle haben unterschiedliche Probleme zu bewältigen. Ronja Brömme aus der zehnten Klasse vom Phorms Campus Berlin Süd, sagt: „Äthiopien hat kein Geld, kein Wasser, keine Nahrungsmittel. Das ist eine Herausforderung.“ Leander Krawinkel aus der neunten Klasse aus Berlin Mitte übernimmt heute die Rolle des Papstes. Er setzt alles daran, dass die katholische Kirche wirtschaftlich schwache Länder unterstützt. „Das Machtgebiet der Kirche muss sich ausweiten – sonst könnten einige Länder muslimisch werden“, erklärt er seine Strategie. Die Schülerinnen und Schüler spielen ihre Rollen äußerst glaubhaft. Die Phorms-Schüler betrachten politische Streitpunkte pragmatisch und nüchtern. „Wieso haben wir eigentlich ein Handelsembargo gegen Kuba?“, fragt ein Schüler, der die USA vertritt. Es finden sich keine logischen Argumente, also wird das Embargo aufgehoben. Der Vertreter Kubas, Kai Alexander Knecht aus der 12. Klasse aus Berlin Mitte, nimmt es gelassen. Er verkörpert kubanische Gelassenheit, sitzt mit einer Army Cap à la Fidel Castro am Tisch und beobachtet das Treiben. Die Homosexuellen-Ehe wird kurz diskutiert und im Anschluss in den meisten Ländern kompromisslos erlaubt. Der Sicherheitsrat bewilligt die Zusammenführung von Israel und den Palästinensischen Autonomiegebieten. Drei Schülerinnen in Tschador gekleidet, die als Vertreterinnen der Palästinensischen Autonomiegebiete anreisten, sind erfreut. Hier ist die Simulation optimistischer als die Realität.

Das Treiben wird von Mitarbeitern von Interpol, dem Internationalen Währungsfonds und dem Roten Kreuz beobachtet – diese Rollen übernehmen die Gymnasiallehrer. Auch sie versuchen zu kontrollieren und zu beeinflussen, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Christopher Slattery, Verantwortlicher für die gesamte Veranstaltung, ist mit der Rolle des Sprechers rundum beschäftigt. Über das Rednerpult verkündet er alle geschlossenen Verträge und neuen Übereinkünfte. In den letzten Wochen vor der Versammlung investierte Slattery zwischen 30 und 50 Stunden pro Woche, um die Simulation vorzubereiten. Aber wozu das Ganze? Würde einfacher Unterricht nicht ausreichen, indem aktuelle Geschehnisse durchgegangen und abgeprüft werden? „Mein Ziel ist es, die Schüler für die Welt zu begeistern und ihr Interesse an aktuellen Geschehnissen zu wecken“, sagt Slattery. Durch die Simulation würde Weltpolitik für die Schüler greifbarer, sie bekämen ein Gefühl dafür wie es ist, etwas bewegen zu können. Es sei nicht oberste Priorität, dass die Schüler alle Zusammenhänge verstehen. Aber durch dieses Projekt setzten sie sich intensiv mit Themen auseinander, die sie sonst nur aus den Nachrichten kennen.

Die unkomplizierten Verhandlungen der Schüler stimmen optimistisch: Es scheint simpler als gedacht, die großen politischen Konfliktthemen zu klären und friedlich miteinander auszukommen. Zum Ende der Simulation herrscht positive Stimmung. Große Konflikte, die aktuell in der Welt herrschen, wurden gelöst.

Um zu sehen, wie sich das Weltgeschehen mit diesen positiven Veränderungen in Zukunft entwickelt, wird direkt nach der ersten Simulation eine zweite Runde der Simulation „Feed the People“ veranstaltet. Dieses Mal sind die Voraussetzungen jedoch vollkommen andere. Die Simulation spielt im Jahr 2050, dementsprechend haben sich die politischen Machtverhältnisse aufgrund verbrauchter Rohstoffe, von Hungersnöten und wegen des demografischen Wandels stark verändert.

Der Hauch von Optimismus, der in der ersten Simulation verbreitet wurde, scheint jetzt verflogen. Obwohl es auch weiterhin positive Entwicklungen gibt – es wird ein Heilmittel für den HI-Virus entwickelt - schlagen die Schüler eisigere Töne an: Kooperationen werden beendet, Selbstmordattentäter sind in bisher verschonten Gegenden der Welt aktiv, die Staaten der arabischen Halbinsel haben ihre Ölvorräte aufgebraucht und verlieren an Einfluss, Russland steht kurz davor, eine Stadt auf dem Mond zu bauen, eine Atombombe wird über New York gezündet.

Die Situation spitzt sich zu. Die Volksrepublik China besteht darauf, dass die USA ihre Schulden in absehbarer Zeit begleichen, woraufhin die USA China den Krieg erklären. Alle Schüler müssen nun in Vertretung ihrer Länder Stellung zu einem der beiden Länder beziehen. Die heutigen Weltmächte USA und China verlieren dadurch sehr an Einfluss und Russland steigt auf zur Weltmacht Nummer 1. Die Schüler merken, wie schnell sich politische Stimmungen verändern können. Und bevor die Welt im absoluten Chaos versinkt, ist die Simulation offiziell beendet.

Auch wenn die Simulation nicht den Weltfrieden gebracht hat, ist sich Slattery sicher, dass die Aktion Früchte tragen kann. „Wenn man Vertreter eines rohstoffarmen Landes ist, das vielleicht keine attraktiven Handelsgüter besitzt oder von einer Hungersnot bedroht ist, dann kann es schwer sein, diese Situation ohne fremde Hilfe zu bewältigen. Hier ist Kreativität gefragt, die Schüler müssen sich austauschen und mit anderen vernetzen“, erklärt Slattery. Vielleicht würden die Schüler 2050 zurück blicken und sehen, dass einige der verhandelten Punkte in der Simulation tatsächlich eigetreten sind. Er wünsche sich, dass sie dadurch erkennen, dass die Zukunft in ihren Händen liegt. Deshalb sei es wichtig, die Schülerinnen und Schüler mit der Realität zu konfrontieren, auch wenn die nicht immer rosig aussieht. Die Schüler lernen, sich mit einem vielschichtigen Thema auf einer alltäglichen Basis auseinanderzusetzen, sie bekommen ein Gefühl für die Größe der Welt und nehmen am Weltgeschehen von ihrer Schulaula aus teil. Slattery sagt, die Schüler interessierten sich jetzt viel mehr für die Welt – das zeige sich auch daran, dass weitaus mehr Schüler die Nachrichten verfolgten.

„Während der Simulation treffen sie Entscheidungen, die ihrer Meinung nach das Beste für ihr Land sind – ob es um Investitionen in Frischwasser, den NATO-Beitritt oder Embargos gegen bestimmte Staaten geht.“

Um seine Schüler weiterhin für internationale Politik zu begeistern, plant Slattery eine weitere Simulation. „Unser Ziel ist es, die Simulation nächstes Jahr zu einem zweitägigen Event zu machen, an dem die Gymnasiasten aller Phorms-Schulen teilnehmen.“ Das stärke den globalen Charakter und den Gemeinsinn der Schulen.


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